Europa ist gar kein Kontinent

Schade, dass gestern nicht Russland und die Türkei um den EM-Titel kämpften. So herrlich wäre der Aufschrei gewesen, dass das ja gar keine europäischen Länder seien. Auf derlei Kleingeist kann zunächst nur eines entgegnet werden: Europa ist ja gar kein Kontinent. Denn ein solcher ist einerseits topografisch definiert durch eine große zusammenhängende Landmasse, die durch Wasser oder andere natürliche Grenzen völlig oder fast völlig abgegrenzt ist, andererseits geologisch durch den Festlandsockel. Also handelt es sich bei Europa nur um einen Subkontinent der eurasischen Landmasse. Der jetzt reflexartig vorgetragene Einwurf von Ural und Bosporus als Grenze zwischen Zivilisation und Wilden mag sein, doch das ist nur eine Definition von vielen.

Aber soll so sein, akzeptieren wir die Definition und schimpfen ein bisschen über die vielen Organisationen, die partout nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass sie bösartige Grenzverletzungen betreiben. (Nationalstaaten wie die Türkei oder Russland lassen wir mal beiseite, ebenso, dass auch Kasachstan einen kleinen Zipfel in Europa hat.) Fangen wir mit der EU an – Zypern gehört geografisch zu Asien. Vielleicht sollte man denen nahe legen, dass sie besser austreten sollten. So wie 1985 auch Grönland der Europäischen Gemeinschaft winke winke gesagt hat – gehören ja zum arktischen Nordamerika, die Schlingel. Und dass Länder wie Armenien, Aserbaidschan oder Ägypten und Marokko zur Europäischen Rundfunkunion gehören – und beim Songcontest teilnehmen dürfen – erregt die Gemüter noch viel mehr. Und die Uefa schreibt uns nicht nur schlechtes Bier vor, sondern hat auch Mannschaften wie Israel als Mitglied. Pfui, sagt da der gelernte Österreicher – und ist plötzlich stolzer Europäer. P. S.: Australien spielt in der Asien-Gruppe.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 30.06.2008)

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Des Türken liebstes Instrument

Des Türken liebstes Instrument ist die Hupe. Sie beherrscht er in all ihren Facetten, reizt virtuos ihr Klangspektrum aus von pianissimo (selten) bis zu forte (öfter) und fortissimo (meistens). Die Musikalität lebt er vor allem spontan aus. Beauftragte man früher einen Komponisten, nach siegreicher Schlacht einen Triumphmarsch zu Blatt zu bringen, agiert der Türke spontan und wartet erst gar nicht auf das Vorliegen der Partitur. Die Sinfonie für Halbmond und Hupe zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass auf crescendo weitgehend verzichtet wird, stattdessen subito nach einem freudigen Ereignis zu den Instrumenten gegriffen wird.

Was die Orchestrierung betrifft, orientiert man sich weniger an den halbleeren Orchestergräben eines Mozart sondern fährt eher Geschütze in Wagnerschen Dimensionen auf (Dass Hupen nach dem Prinzip des Wagnerschen Hammers, der einfachsten Form eines elektromagnetischen Unterbrechers arbeiten, hat damit übrigens nichts zu tun). Vom Smart-Cabrio bis zur LKW-Zugmaschine werden alle Instrumente ausgepackt, mit wehenden Halbmond-Fahnen versehen und in die Open-Air-Arenen der Stadt geschickt. Erste Reihe fußfrei – und ohne Platzkarten – erlebt das Publikum dann eine Vorführung, deren Monotonität vor allem ein Gefühl transportiert – Euphorie. Zuletzt gesehen in der Nacht von Samstag auf Sonntag am Wiener Gürtel. Karlheinz Stockhausen muss sich im Grab umgedreht haben, sogar sein Helikopter-Streichquartett konnte nicht die Intensität erreichen, wie sie das türkische Huporchester gezaubert hat. Der nächste Anlass für ein spontanes Hupkonzert könnte am Mittwoch bevorstehen, wenn das türkische Team auf Deutschland trifft. Wer sich für moderne Musik begeistern kann, weiß ja, wem er die Daumen drücken muss.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.06.2008)

So werd‘ ich nie ein echter Österreicher

Ivica Vastic ist ein gutes Beispiel für gelebte Integration. „Ivo, jetzt bist du ein echter Österreicher“ titelte die Krone bei der WM 1998, als der gebürtige Kroate – und zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahre lang Eingebürgerte – in der Verlängerung das Tor zum 1:1 gegen Chile schoss. Damit war es also amtlich, und niemand im Land hält Ivo unser noch für einen Kroaten. Aber es geht auch umgekehrt – bei mir zum Beispiel. Mich hält man gerne für einen Armenier. Unvergesslich etwa die Szene in einem Café in Jerewan, das hauptsächlich von ausländischen Gästen frequentiert wird – alle am Tisch bekamen eine englische Speisekarte, nur auf meinen Platz legte die Kellnerin mit schlafwandlerischer Sicherheit ein in Ostarmenisch gehaltenes Menü. Und auch der Polizist, der unser Mietauto aufhielt, fiel aus allen Wolken, als ich auf seine Wortkaskaden nur mit einem ratlosen Schulterzucken reagieren konnte – „aber der ist doch Armenier“, murmelte er dann auf Russisch. All das geschah noch ohne einen Blick auf meinen Namen – denn auch der sorgte auf dieser Reise für massive Verwirrung, ist doch die klassische Endung eines armenischen Namens das „-ian“ am Ende. Nicht nur in einem Hotel war dann plötzlich ein Herr Kocian registriert.

Aber das ist nicht alles. Auf einem Fährschiff nach Baku wurde mir von einem Matrosen beschieden, dass ich einen guten Aserbaidschaner abgeben würde. Und eine Wirtin in Khiva meinte, ich hätte ein typisch usbekisches Gesicht. Das sind Momente, in denen man etwas zu zweifeln beginnt. Zementiert wird dieser Zweifel dann bei der Ankunft in Wien – wenn mich das Bodenpersonal am Flughafen als einzigen in der Reihe auf Englisch anspricht. Wie, bitte, soll ich mich da als Österreicher fühlen? Vielleicht sollte ich doch noch eine Karriere als Fußballer starten.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.06.2008)

George Clooney mag keinen Kaffee

„Es geht mir wirklich schon auf die Nerven“, sagte George, als wir mit einer Dose Ottakringer in der Hand am Würstelstand lehnten, „seit diesem Werbespot habe ich nirgendwo mehr meine Ruhe.“ Wo immer er auch hinkomme, überall würden die Gastgeber sofort die Espressomaschine in der Küche anwerfen. „Dabei mag ich gar keinen Kaffee“, sagte er mit hörbarem Seufzen und nahm einen tiefen Schluck aus der Bierdose. All die anderen Dinge machen ihm ja nichts, behauptet er zumindest. Dass an sich vernünftige Frauen bei seinem Anblick wie Kinder infantil in die Hände zu klatschen beginnen, daran gewöhnt man sich. Dass Bilder von ihm auf Küchenwänden und Klotüren hängen, was soll’s. Aber irgendwo hat auch die Geduld eines Weltstars Grenzen.

„Wenn sie mir wenigstens einen türkischen Kaffee machen würden“, setzte er nach, „das hat noch Stil.“ Auch den Kaffee, den er bei seinen Besuchen in Darfur bekam, schätzte er sehr. Da konnte man noch die Bohnen spüren und nicht nur eine bunte Packung aus Aluminium durch die Finger gleiten lassen.

Während er die leere Dose in der linken Hand zerknitterte, orderte er bei Goran Nachschub: „Zwei Sechzehnerhülsen“, rief er und grinste über den einzigen deutschen Satz, der ihm fast akzentfrei über die Lippen ging. Als er den Verschluss einer Dose öffnete, ging sein Grinsen langsam in einen ernsten Gesichtsausdruck über: „Und dann machen sie auch noch ein Casting, wer mit mir Kaffee trinken darf.“ Introvertiertes Kopfschütteln, ein tiefer Schluck aus der Dose. „Erich“, sagte er und drehte sich mit ernster Miene in meine Richtung, „eigentlich . . .“, er stockte, „eigentlich trinke ich zum Frühstück am liebsten Kakao.“ Verständnisvoll legte ich meine Hand auf seine Schulter. „Kakao“, sagte ich, „was sonst.“

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.06.2008)

Berühr mich nicht in der U-Bahn

Die U-Bahn ist jener Ort, an dem selbst Philanthropen ihre schwachen Momente bekommen. Kein Wunder, eigentlich. Denn jeder einzelne Fahrgast für sich mag ja recht nett, ein interessanter Gesprächspartner und freundlicher Mensch sein. Doch verschwimmen all diese Individuen plötzlich zu einer im Gleichklang mit dem Wagon schwankenden, trägen Masse, die nichts Menschliches mehr an sich hat. Mit dem Steigen der Temperaturen wähnt sich der Fahrgast oft nur noch mitten in einem vor sich hinblubbernden Germteig. Verständlich, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit so schnell wie möglich versucht wird, dem silbrig-glänzenden Backofen auf Schienen zu entkommen.

Dumm nur, dass der Vorgang der Wiedermenschwerdung nicht ohne Feindkontakt abläuft – und verschwitzte Hände in Bauchhöhe Schneisen in die Freiheit schlagen. Nun mögen Besucher von Swinger-Clubs Körperkontakt mit wildfremden Menschen schätzen, doch beim täglichen Weg in die Arbeit ist der Arm in der Leistengegend keine allzu erbauliche Vorstellung – besser, Realität.

Es muss aber nicht einmal eine volle U-Bahn sein, die für unerwünschten Körperkontakt sorgt. Das Unbehagen beginnt oft schon dann, wenn ein Passagier das ungeschriebene Gesetz missachtet, in der Vierergruppe nicht den Sitz schräg gegenüber einzunehmen, sondern sich neben mich zu setzen. Und genau jene Zeitgenossen sind es – selektive Wahrnehmung ausgeschlossen -, die dann die U-Bahn-Zeitung bis vor mein Gesicht ausbreiten, als wäre es die Wochenendausgabe der Frankfurter Allgemeinen. Genau jene Zeitgenossen sind es, die ihren Ellenbogen bis in die Mitte meines Sitzes reichen lassen. Und jene Zeitgenossen sind es auch, die in mir die Erkenntnis wecken, dass ich eigentlich kein Philanthrop sein kann.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 02.06.2008)