Leute, die der U-Bahn in Superzeitlupe nachlaufen

Vielleicht ist es Bosheit. Jener Moment nämlich, in dem man wünschte, eine „Universum“-Dokumentation drehen zu können. Dass man sich, ausgerüstet mit der neuesten Technik, auf die Lauer legen und beobachten könnte. Irgendwo auf dem Mittelstreifen des U3-Bahnsteigs in der Station Volkstheater würde man dann seine Highspeed-Kamera positionieren, die 1200 Frames pro Sekunde aufnehmen kann. Und das Objektiv auf all jene Menschen richten, die von der Rolltreppe kommend den kurzen Gang entlangzulaufen beginnen, um noch die U-Bahn zu erwischen, die gerade ihre Türen geöffnet hat.

In extremer Zeitlupe ließe sich dann beobachten, wie der Blick eines Menschen plötzlich starr wird, wie aus dem gemütlichen Stehen auf der Rolltreppe plötzlich in den Beschleunigungsmodus gewechselt wird. Wie er ein Bein vor das andere setzt, erst im schnellen Trab, dann im Galopp mit beiden Beinen in der Höhe. Wie in einem Computerspiel weicht der Laufende all den Entgegenkommenden aus, die aus der U-Bahn ausgestiegen sind und Richtung Ausgang strömen. „Bitte steigen Sie nicht mehr ein“, dröhnt es aus dem Lautsprecher. Noch gibt der Laufende nicht auf, hastet an der Rolltreppe vorbei, nur noch wenige Meter fehlen. Die Türen schließen. In diesem Moment zoomt die Kamera genau auf das Gesicht, fängt die rollenden Augen ein, den enttäuschten Blick. Vielleicht auch noch die flache Hand, die auf den bereits losfahrenden Zug schlägt. Ja, vielleicht ist es Bosheit, all die armen Läufer wie die Protagonisten einer Naturdokumentation zu betrachten. Und ja, vielleicht ist genau das der Grund, warum die Motivation, der U-Bahn nachzulaufen, ziemlich niedrig ist – vielleicht hatte ja auch schon jemand anderer die Idee mit der Highspeed-Kamera.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 29.07.2013)

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Grimassierende Mimen der sommerlichen Lustspiele

Schauspieler schauen nun einmal. Das allein wäre ja noch kein Problem, im Gegenteil, das gehört mit zu ihrer Job Description. Doch, und hier liegt die Krux, sie schauen auch auf und von Plakaten. Gerade die Vertreter des komischen Fachs legen in dieses Schauen meist einen Gesichtsausdruck, der all das, was ein Stück oder einen Film ausmacht, auf den für eine zweidimensionale Abbildung maximal möglichen Ausdruck komprimiert. Und so grimassieren sich all die Kabarettisten, die Mimen der komödiantischen Sommertheater, ja selbst die Ensemblemitglieder großer Bühnen durch all die Gefühle, die eine Rolle nach außen transportieren will. Da verdrehen sich die Augen, werden verwundert Mundwinkel nach unten gezerrt, wie sie am Ende eines Sketches oft die Pointe markieren, oder erstarren die Gesichtszüge in einem skurrilen Schockmoment, womöglich noch die Lippen zu einem O geschürzt. Auf dass die Betrachter des Plakats sofort erkennen, dass das beworbene Stück auch wirklich lustig ist. Und der abgebildete Schauspieler ein Akteur, der allein zu unserem Gaudium seine Mimik für einen Moment einfrieren lässt. Dieses Muster funktioniert überall, wo es Komödien gibt. Auf Hollywood-Filmplakaten wie auch auf Ankündigungen von Kleinkunstbühnen und Lustspielzelten. Man muss nicht einmal die Sprache verstehen – selbst im Urlaub lassen sich so treffsicher die regionalen Highlights der Unterhaltungskultur erkennen.

Allein, die Begegnung mit der zum papierenen Augenblick erstarrten Grimasse macht mit der Zeit wehmütig. Beim täglichen Rendezvous mit der Litfaßsäule wünschte man, all die zu Standbildern erstarrten Posen der Komödianten würden sich doch zumindest ein wenig verschieben, die Augen in eine andere Richtung schauen, die aufgerissenen Münder sich schließen. Nein, nicht alle Menschen wollen täglich der Pointe eines Sketches ins Gesicht schauen müssen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 22.07.2013)

„Ich mein’“ ist das neue Ähm

Wenn der Mund schneller ist als das Sprachzentrum im Gehirn, kann das zu kommunikativen Komplikationen führen. Um nun ebendiesen Gap zwischen Sprechen und Denken zu überbrücken, erfand die Schöpfung irgendwann das „Ähm“ und pflanzte es in die menschliche Großhirnrinde, von wo es sich jedes Mal auf die Stimmbänder stürzt, sobald das Gehirn mit den Lippen nicht mehr mitkommt. Zuletzt hat dieses verbale Luftschnappen aber auch zahlreiche andere Formen angenommen. Besonders häufig anzutreffen ist es derzeit in der Inkarnation als „Ich mein’“. Kaum ein Satz wird mehr ausgesprochen, ohne dieses Ähm-Äquivalent voranzustellen. Seltener trifft man auf das „Ich finde“, gelegentlich auch auf das „Also“ – wobei es Letzteres sogar als verschriftlichtes Einleitungsfüllwort in so ziemlich jedes Forum im Internet geschafft hat. Beliebt ist auch das „Na ja“, exotischer und dementsprechend nur selten gebraucht ist dagegen das „Ja, nein“, ehe die elektrischen Nervenimpulse die Staustelle auf dem Weg zum Mund überwunden haben. Auch vermeintliche Imperative wie „Schau“, „Hör zu“ oder „Pass auf“ dienen in Wirklichkeit nur der Überbrückung nervlicher Engstellen. Wirklich entblößt wird das Leitungsproblem aber erst durch das langgezogene „Du, saaaaaaag“. Hier lässt sich regelrecht beobachten, wie die Ganglien langsam genügend Spannung aufbauen, um einen Gedanken zu Worten werden zu lassen.

Auch im angloamerikanischen Sprachraum sind derartige verbale Lückenfüller bekannt. Als wichtigstes hat sich das „you know“ etabliert, das – im Gegensatz zum deutschsprachigen Trend der Voranstellung – eher zwischen einzelnen Satzteilen als verbalisierte Nachdenkpause positioniert wird. Und: Derartige Füllwörter passieren auch beim Schreiben – mit dem Unterschied, dass man sie danach elegant wieder löschen kann. Also ich mein‘, ich finde das ziemlich praktisch.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 15.07.2013)

Das „Ähm“ der Kollegin als Moment der Kontemplation

Der Beginn einer jeglichen Konversation besteht zunächst darin, die Aufmerksamkeit eines Menschen auf sich zu lenken. Das kann auf nonverbaler Ebene geschehen, etwa durch das Suchen von Augenkontakt, den amikalen Griff auf die Schulter oder auch durch akustische Reize. Gerade wenn ein gewünschter Gesprächspartner konzentriert in den Bildschirm versunken ist, empfiehlt sich die stimmliche Variante, etwa durch ein Hüsteln oder eine wie auch immer geartete Grußformel à la „Hallo“ oder „Entschuldigung“. Vor allem im beruflichen Alltag bürgern sich dabei gewisse Muster ein – und bestimmten Kollegen kann man schon mit schlafwandlerischer Sicherheit ihre Initiationslaute zuordnen. Vom tirolerisch kernigen „Griaß di“ über das schon von der anderen Seite des Büros entgegenklingende „Herr . . ., Herr . . ., Herr Kocina“ bis zum klassischen „Ähm“.

Spannend wird es vor allem dann, wenn der Laut zum Selbstzweck wird – die Kollegin etwa mit tänzelnder Leichtigkeit vor meinen Schreibtisch hopst, ihr obligates „Äähm“ extrem in die Länge zieht. Und mit den Worten „Jetzt hab ich’s vergessen“ wieder kehrtmacht.
Diese Routine hat im Büroalltag aber auch durchaus ihre wunderbaren Seiten. Wann immer der Name der Kollegin auf der telefonischen Rufnummernerkennung auftaucht, freut man sich auf fünf Sekunden der stillen Kontemplation. In der Gewissheit des „Äähm“ hebt man ab, legt die Hand auf den Tisch und versinkt für einige Momente in meditativer Ruhe, ehe man den Hörer ans Ohr führt. Einziges Problem: Die Kollegin weiß das mittlerweile – und wartet ihrerseits, bis sie meiner Stimme gewahr wird. Erst dann setzt sie ihr „Ähm“ ein. Was in jüngster Zeit dazu geführt hat, dass diese Phase der Entspannung immer länger wird, während beide Seiten darauf warten, wer zuerst einen Mucks von sich gibt. Zuletzt habe ich die Kollegin am anderen Ende der Leitung schnarchen gehört.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 01.07.2013)