Leute, die gleich schnell gehen wie man selbst

Warum fühlt sich eigentlich ein unfreiwilliger Paarlauf mit einem Unbekannten so ungut an?

Die schlimmsten Leute sind die, die gleich schnell gehen, wie man selbst. Geht jemand langsam, kann man ihn überholen. Geht jemand schnell, schaut man eben seinem kleiner werdenden Rücken nach. Aber kommt man aus einem Geschäft oder einer Seitengasse neben einer Person heraus, die das gleiche Tempo geht, ist es mühsam. Ein Paarlauf mit einem Unbekannten. Und nun? Beschleunigen? Abbremsen? Unvermutet stehen bleiben und zur Tarnung aufs Handy schauen? Oder den wildfremden Menschen an der Hand nehmen – wir haben so viel gemeinsam, wollen wir heiraten?

Wäre vielleicht auch eine Idee beim Aufeinanderzukommen: Der eine weicht in die eine Richtung aus. In dem Moment will der andere genau das Gleiche tun. Angedeuteter Seitenwechsel. Links, rechts, links, Seitwärtsschritt. Ein hübscher Balztanz, eigentlich. Letztlich löst sich die Situation aber ohnehin weitgehend unromantisch auf – einer bleibt stehen, der andere umrundet das nun stehende Hindernis. Zum Austausch von Visitenkarten oder Zärtlichkeiten kommt es nicht.

In manchen Situationen kann das gleiche Tempo zum Dilemma werden. Nachts am spärlich beleuchteten Donaukanal über eine längere Zeit in zehn Metern Abstand hinter einer Joggerin zu laufen, zum Beispiel. Mit Blick auf die Runtastic-App will man das Tempo nicht reduzieren, zum Überholen fehlt die Kraft. Für einen kleinen Umweg müsste man einen Hang hinauf- oder in den Fluss hinunterrennen. Oder am Stand ein paar Kreise drehen. Und nach vorn rufen: „Keine Angst, ich stalke Sie eh nicht“ wirkt auch ein wenig, sagen wir, seltsam.

Gelegentlich fühlt man sich in solchen Situationen derart überfordert, dass man am liebsten losschreien würde: „Entschuldigen Sie, das Tempo, das Sie da anschlagen, ist meines. Können Sie sich gefälligst ein eigenes suchen?“

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 18.05.2015)

„Postleitzahl?“ ist das neue „Kundenkarte?“

Eine kleine Kulturgeschichte der Begrüßung an der Kassa im Supermarkt.

Auf der Flucht bleibt keine Zeit zum Grüßen. So gehetzt, wie man die Milchpackung, die Mozartkugeln und den Veltliner in den Papiersack räumen muss, während schon die Bio-Papayas des Hintermannes über den Abhang nach dem Fließband nach unten kullern, erwartet man sich auch keinen freundlichen Dialog mit der Kassierkraft an der Supermarktkassa. Wie lang ist es eigentlich her, dass „Guten Tag“ noch zum Portfolio der automatisierten zwischenmenschlichen Beziehungen gehörte? In jüngster Zeit lautet die Begrüßungsformel ja „Postleitzahl?“ Ja, eh. Wozu eine unsinnige Begrüßung, wenn man doch auch kostenlos ein bisschen Marktforschung machen kann. Beim ersten Mal kratzt man sich noch verdutzt die vier Ziffern für Neubau zusammen und stammelt ein ehrliches 1070. Beim zweiten Mal kommt die Überlegung, ob man mit der Angabe völlig unsinniger Postleitzahlen (0815? 1234? 4711?) das System zum Erliegen bringen könnte. Beim dritten Mal hat man längst resigniert, weil das Erfinden einer halbwegs originellen Postleitzahl dann doch mehr Kreativität braucht als eine ehrliche Antwort.

„Postleitzahl?“ ist übrigens das neue „Kundenkarte?“, das wiederum eine Zeitlang das neue „Guten Tag“ war. Was man gar nicht mehr hört: „Darf ich in die Tasche reinschauen?“ Dafür gibt es ja Spiegel über der Kassa – für den Blick auf kahle Hinterköpfe, vermutlich. Und was derzeit gerade Pause macht, ist das „Sammeln Sie Sticker?“ Aber keine Angst, das kommt in zyklischen Abständen wieder. Und nein, danke, keine Kinder. Im Drogeriemarkt hat das „Wir hätten noch Nagellack im Angebot“ für Kunden mit Kundenkarte das „Wiederschauen“ abgelöst. Und wird man bei McDonald’s eigentlich noch mit „Apfeltasche?“ verabschiedet?

Schreiben Sie mir doch bitte, falls Ihnen noch weitere Supermarktkassenphrasen einfallen! Postleitzahl?

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 11.05.2015)

Die Reiter der Apokalypse sind in der Mailbox gelandet

Oh, mein Gott! Wenn der aufgeregte Stil einer Nachricht den Inhalt nur bedingt widerspiegelt.

Die Aneinanderreihung von Vokalen wird gern als Versuch eines Stilmittels eingesetzt. Was in der gesprochenen Sprache noch einigermaßen nachvollziehbar ist, etwa um hemmungsloses Entzücken beim Anblick eines jungen Hundes auszudrücken, wirkt im Geschriebenen nicht ganz sooo gut. Und je länger die Monovokalkette, desto dings. Ein „Eriiiiiiiiiiich“ als Anrede in einem Mail trägt nicht dazu bei, den Absender wahnsinnig ernst zu nehmen. In Kombination mit einem „Oh, mein Gott“ (oder der Kurzform omg) wird der Anschein erzeugt, der jüngste Tag stünde unmittelbar bevor. Allein, in der Regel sind die Reiter der Apokalypse noch nicht einmal in den Stall gegangen und liegen die sieben Posaunen noch gut verpackt im Instrumentenkoffer. Dementsprechend muss eine in diesem Stil vorgebrachte Nachricht à la „Ich kann nächsten Donnerstag nicht zum Spieleabend kommen“ enttäuschen. Hauptsache, es ist ein bisschen Adrenalin in die Welt gesetzt worden.

Auch der Versuch, durch die übermäßige Verwendung von Versalien Aufmerksamkeit zu erheischen, geht in der Regel daneben. Ein solches Majuskelmassaker lässt nur vor dem geistigen Auge des Empfängers ein Bild des Absenders als aufgescheuchtes Suppenhuhn entstehen, das unter wildem BOOORK BOOORK BOOOORK durch den Hühnerstall sprintet. Was im SCHLUSSVERKAUF in dicken, roten Lettern auf einem Schild ja noch zumindest ein bisschen nachvollziehbar ist, sollte im Schriftverkehr tunlichst ausbleiben. Bitte! So wie auch eine Mehrfachinterpunktion mit Rufzeichen in der Regel mehr über die Aufgeregtheit des Verfassers aussagt, als die Bedeutung des Inhalts zu betonen. Da steht also der Absender in der Fußgängerzone mit einer Tafel in der Hand – auf ihr ist zu lesen „DAS ENDE IST NAAAAH!!!!!“ O. k., ist schon gut, Nostradamus, es wird sich ein anderer Termin für den Spieleabend finden.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 04.05.2015)