Ladakh: Den Göttern näher

Beim Wandern im Hochland von Ladakh entdeckt man neben nackten Bergen und feinem Buttertee auch etwas, das im Alltag oft viel zu kurz kommt: die eigene Langsamkeit.

Yulchung

Yulchung

„Langsam, langsam!“ Es sind nur wenige Worte, die Thinles auf Deutsch kann. Doch das eine Wort, das verwendet der Bergführer immer wieder. Ruhig und gemächlich setzt er es ein, während die Gruppe auf einen Pass zusteuert. „Langsam!“ Es mag damit zu tun haben, dass Geschwindigkeit hier oben sekundär ist. Oder sogar völlig unwichtig. Weil man es im indischen Himalaja nicht notwendig hat? Vielleicht. Oder auch, weil es für die Gruppe von Wanderern, die Thinles durch Ladakh begleitet, manchmal gar nicht anders geht. Immerhin befindet man sich hier auf einer Höhe, in der die Luft schon langsam dünn zu werden beginnt.

Es beginnt schon bei der Landung. Wenn die Maschine sich zwischen den gewaltigen Gipfeln des Himalaja langsam einpendelt und sich in das Tal zwängt, in dem der Flughafen von Leh liegt. Langsam soll man es angehen, hat es vorher geheißen. In Zeitlupe soll man sich bewegen. Und ja, beim Aussteigen aus dem Flugzeug ist da dieser Hauch von Ehrfurcht. Auf 3500 Meter Seehöhe stünde man in Österreich 157 Meter unter dem Gipfel des Großvenedigers. Hier kommt es dagegen ganz plötzlich, aus der klimatisierten Flugzeugkabine stolpert man ins Freie. Schnuppert vorsichtig, wie sich die Höhenluft atmen lässt. Registriert überrascht, dass das Atmen gut funktioniert, macht zwei, drei schnelle Schritte zum Empfangsgebäude – und spürt plötzlich, dass der Tipp mit der Zeitlupe vielleicht doch nicht so schlecht war.

Schon bei kleineren Anstrengungen bleibt die Luft weg, wird der Atem schneller, beginnt das Herz aufgeregt zu pumpen. Also gut, dann lieber doch langsam, langsam. Es ist noch gar nicht so lange her, als Ladakh touristisch noch weitgehend unbekannt war. Im äußersten Norden Indiens gelegen, im Westen flankiert von Pakistan, im Osten vom chinesischen Tibet, war das ehemalige Königreich weitgehend abgeschnitten von der Außenwelt. Erst in den 1970er-Jahren wurde die Region für den Tourismus geöffnet. Zunächst nur mühsam über die Militärstraße von Srinagar zu erreichen, wird Ladakh mittlerweile ganzjährig angeflogen. Heute ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle der Region, rund 100.000 ausländische Gäste werden jedes Jahr gezählt – wobei die Saison wetterbedingt äußerst kurz ist. Zwischen Juni und August herrscht hier Hochbetrieb. In dieser Zeit wächst auch die Bevölkerung von Leh, die sonst bei etwa 15.000 Einwohnern liegt, auf zumindest das Doppelte an. Bauarbeiter aus Indien und Nepal, Händler aus Kaschmir, tibetische Souvenirverkäufer, so wie auch viele Ladakhis aus den Dörfern – sie alle kommen, um am Tourismus mitzuverdienen.

Dazwischen spazieren Kühe. Dementsprechend wirkt es im Zentrum der Hauptstadt dann auch nicht allzu ruhig und beschaulich. Autos und Mopeds zwängen sich durch die Fort Road, eine der wichtigsten Straßen der Stadt, vorbei an Geschäften, Restaurants, Internetcafés und Reise­büros. Dazwischen spazieren Kühe. Und Touristen. An ihrem Tempo lässt sich erkennen, wie lange sie schon hier sein müssen. Wer beschwingt durch die engen Gassen der Altstadt marschiert, hat wohl schon einige Tage in der Höhenluft verbracht. Die frisch angereisten Gäste gehen es noch langsam an – bleiben beim Bergaufgehen immer wieder stehen, um zu verschnaufen. Und richten den Blick immer wieder auf die umliegenden Berge. Und auf den markanten Königspalast, der als von fast überall sichtbares Wahrzeichen die Stadt überragt. Hier hinauf führt denn auch einer der ersten längeren Spaziergänge. „Langsam, langsam“, natürlich, geht es durch das Gewirr der Altstadtgassen, vorbei an der Moschee, an Bäckereien, in denen indisches Fladenbrot gebacken wird. Und schließlich über steinerne Treppen bis zum Eingang des 400 Jahre alten Palasts.

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Staubtrockene Luft. Von hier oben schweift der Blick über Leh. Grün wirkt die Stadt, voller Sträucher und Bäume, vorwiegend Pappeln, zwischen den Häusern. Und das inmitten einer Region, die staubtrocken ist. In dieser Region des Himalaja fällt nur wenig Niederschlag, weil die Monsunwolken sich ihrer lebensspendenen Ladung schon über den Bergketten im Süden entledigen. Es dominieren Braun- und Rottöne im Gestein. Nur einige Täler der Hochgebirgswüste, in denen es genug Schmelzwasser von den Himalaja-Gletschern gibt, blitzen als grüne Oasen hervor. Und wie in einer Wüste üblich neigen auch die Temperaturen zu Extremen. Da kann es trotz der großen Höhe im Sommer durchaus 35 Grad haben, die sich allerdings wegen der trockenen Luft nicht so heiß anfühlen – auch der Wind sorgt für Abkühlung. Ist die Sonne untergegangen, wird es recht schnell kühl – und ohne Pullover oder Jacke ziemlich ungemütlich.

Langsam, langsam – aber irgendwann endet die Zeit der ersten Eingewöhnung. Der Weg vom Zimmer zur Hotelrezeption geht dann schon ohne Keuchen. Und nachts ist auch Durchschlafen trotz der dünneren Luft kein Problem mehr. Zum eigentlichen Ziel, dem Wandern in den Bergen, ist es noch ein Stück hin. Doch die Dosis der Anstrengung wird nach und nach gesteigert. Etwa mit dem morgendlichen Aufstieg ins Kloster von Thiksey, etwa 20 Kilometer von Leh entfernt. Gegen sechs Uhr morgens beginnt hier die Puja, die Morgen­meditation der Mönche. Es sind Momente wie diese, die vor allem jene Menschen ansprechen, die die buddhistische Spiritualität erleben wollen. Wenn Dutzende Mönche in ihren roten Kutten auf den dicken Teppichen des Klosterraums ihre Verse rezitieren, während einige der Novizen noch darum kämpfen, überhaupt wach zu bleiben. Mit mühsam geöffneten Augen verteilen die Buben zwischendurch Buttertee aus riesigen Aluminiumkannen und Tsampa, geröstete Gerste – nicht nur an die Mönche, auch die Gäste dürfen am morgendlichen Mahl teilhaben.

Kloster Thikse, Morgenpuja

Kloster Thikse, Morgenpuja

Eine, manchmal sogar zwei Stunden dauert die Puja. Als Tourist lehnt man sich am besten zurück, lässt sich von der Monotonie der Gesänge mitreißen und beobachtet das Zeremoniell. Dass sich nicht alle Besucher daran halten, gehört auch dazu. Meist sind es Gruppen chinesischer Busreisender, die mit großem Getöse mitten in die Meditation platzen, sich alles andere als dezent unter die Mönche mischen und sie mit ihren Objektiven ins Visier nehmen. Die Mönche selbst versuchen, ruhig zu bleiben und sich in ihrem Gebet nicht stören zu lassen. Und üblicherweise endet der Spuk auch schon nach einigen Minuten – wenn die Gruppe genügend Aufnahmen gemacht hat und sich zum nächsten touristischen Hotspot aufmacht. Dabei lohnt es sich durchaus, sich das Kloster näher anzusehen. Unter anderem wegen einer besonders schön gearbeiteten Buddha-Statue, die sich in einem Seitentempel auf zwei Stockwerke erstreckt. Wegen der grandiosen Aussicht über das Industal. Und nicht zuletzt wegen der Klosteranlage selbst. Mächtig thront das Hauptgebäude auf einem Hügel, davor finden sich unzählige Mönchswohnungen und Chörten – die lokalen Varianten buddhistischer Stupas. Zweifellos eines der lohnenswertesten Fotomotive der Region.

Etwa drei bis vier Tage nach der Ankunft sollte der Körper sich schließlich so weit an die Bedingungen in der großen Höhe gewöhnt haben, dass es mit dem eigentlichen Abenteuer Ladakh losgehen kann. Der Großteil der Besucher kommt schließlich hierher, um in den Bergen zu wandern. An diesem Punkt kommt auch wieder „langsam, langsam“ ins Spiel. Wenn Bergführer Thinles selbst wie eine Gams über die Steine zum 4600 Meter hohen Gyamsa La hochspringt – doch die westlichen Besucher mahnt, den Pass locker anzugehen. Für die Einheimischen gehört der Weg über die Berge zum Alltag. Viele können gar nicht anders, weil manche Dörfer anders nicht zu erreichen sind. Für Touristen ist dieses Tempo in der Regel nicht machbar. Was aber nicht besonders stört. Man hat es ja nicht eilig. Eine fünfstündige Wanderung auf den Berg entschleunigt ungemein. Doch bleibt die Euphorie dabei nicht auf der Strecke. Jeder bezwungene Pass wird gefeiert. Vor den Gebetsfahnen, die, vergleichbar den europäischen Gipfelkreuzen, an den höchsten Stellen angebracht sind, werden Fotos vom Gipfelsieg gemacht. Und irgendjemand aus der Gruppe stimmt immer den Ruf des Triumphs an: „Ki ki so so lha gyalo!“ Mögen die Götter siegen! Trekkingtouren gibt es in allen möglichen Variationen. Von Tagesausflügen aus Leh bis zum legendären Zanskar Trek, der Querung des Himalaja-Hauptkamms, die rund 17 Tage in Anspruch nimmt. Und auch noch einige Varianten dazwischen. Wobei es vor allem dort besonders spannend wird, wo es tatsächlich keine andere Möglichkeit gibt, als einen Ort zu Fuß zu erreichen. Das Dorf Lingshed etwa liegt auf rund 4000 Metern Seehöhe in einem Talkessel, der nur über einen etwa fünfstündigen Marsch erreicht werden kann. Rund 1000 Menschen wohnen hier in 80 Häusern und Höfen, leben vom Anbau von Gerste und Erbsen und halten Yaks und Ziegen. Das kulturelle Zentrum des Dorfes ist das Kloster Lingshed, in dem etwa 60 Mönche leben. Segnungen der Zivilisation wie Strom oder fließendes Wasser gibt es hier nicht, für größere Besorgungen ist jedenfalls ein längerer Fußmarsch nötig.

Christian Hlade, Gründer von Weltweitwandern

Christian Hlade, Gründer von Weltweitwandern

Meditative Begleitmusik. Zwar ist seit Längerem eine Straße nach Lingshed in Bau, doch endet sie noch an einem steilen Hang nahe des Passes Kiupa La in 4450 Metern Höhe. Von hier aus geht es nur noch zu Fuß weiter. Es ist fraglich, ob und wann dieses technisch schwierige Stück von hier über das Dorf Skiumpata nach Lingshed überhaupt fertiggestellt werden kann. Straßen sind allerdings zweischneidige Schwerter: Für die Dorfbewohner ist der Anschluss an die nächstgrößeren Ortschaften eine Erleichterung. Für den Wandertourismus, der für einen großen Teil der Einnahmen in Ladakh sorgt, geht ein Teil des Flairs verloren, den ein so abgeschnittener Ort hat.

Gerade das Fehlen jeglicher touristischer Infrastruktur macht den Reiz von Trekkingtouren aus: übernachten im Zelt unter dem klaren Sternenhimmel; in der Früh von einer vorbeiziehenden Schafherde geweckt werden; sich im eiskalten Wasser eines Gebirgsbaches waschen oder die verschwitzte Kleidung ausspülen; und nicht zuletzt auch die Möglichkeit, ganz für sich allein zu bleiben. Die ersten Tage wandert die Gruppe meist noch gemeinsam im Rudel, aufgeteilt höchstens durch die unterschiedliche Fitness. Während die sportliche Gruppe schon oben auf dem Pass (tibetisch: La) wartet, steigt eine mittlere erst den Kamm hinauf, während die Nachzügler noch mit der Ebene kämpfen. Doch nach einigen Tagen ist das Bedürfnis nach Unterhaltung nicht mehr allzu groß. Das Alleingehen wird attraktiver und das regelmäßige Klicken der Wanderstöcke auf dem Boden zur meditativen Begleitmusik. Auf den steilen Bergaufstücken gibt das Atemgeräusch den Rhythmus vor. Dabei wird der Kopf mehr und mehr frei. So mancher Gedanke, der sonst keine Chance hätte, wagt sich plötzlich aus den Ganglien hervor. Unterbrochen wird das meditative Versinken nur noch durch die eine oder andere Pause. Oder durch ein fröhliches „Julee“, das einem entgegengerufen wird. Von Einheimischen, die eine Schafherde die Wiese hinauftreiben. Aber auch von anderen Wanderern, denen man hier im indischen Himalaja begegnet. Julee, das ist der Gruß in Ladakh. Der lebensfrohe Ruf in einer lebensfeindlichen Umgebung, mit der sich die Menschen arrangiert haben.

Vergiss dein Handy, vergiss den Griff danach. „Langsam, langsam“ ist Thinles wieder zu hören. Er steht schon wieder weit oben am Hang, auf den sich ein Schotterweg in Serpentinen hinaufmäandert. Ja, langsam. Wahrscheinlich könnte man, da man jetzt schon an die Höhe gewöhnt ist, schneller gehen. Aber wozu? Es gibt keinen Grund zur Eile. Hier ist man weit weg vom Alltag, in Schluchten und zwischen Bergen sind die Gedanken überall, nur nicht daheim. Und selbst wenn man wollte, die Verbindung nach Hause wird nicht klappen. In Ladakh funktionieren lediglich einige wenige registrierte Handys. Internet gibt es nur vereinzelt in größeren Orten.

Christian Hlade und Thinless Stanzin

Christian Hlade und Thinles Stanzin

Der routinierte Griff zum Mobiltelefon kommt von Tag zu Tag seltener. Bis das Gehirn irgendwann begriffen hat, dass es nichts bringen wird. So bleiben die Hände auf den Wanderstöcken, während die Füße über die steinige Anhöhe auf den nächsten Pass zumarschieren. Oben wird Thinles gratulieren. Er wird gemeinsam mit der Gruppe für die Fotos posieren, mit einer Chörte im Hintergrund, um die lange Seile mit Gebetsfahnen gespannt sind.

„Ki ki so so lha gyalo!“ Mögen die Götter siegen. In diesem Moment fühlt man sich ihnen jedenfalls ein bisschen näher.


Info

Ladakh ist eine Region im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Mit etwa 270.000 Einwohnern auf etwa 90.000 Quadratkilometern ist das Land äußerst dünn besiedelt. Allerdings täuscht diese Zahl, sind doch nur etwa 0,4 Prozent der Fläche in der Himalaja-Region tatsächlich bewohnbar. Wirtschaftliches und kulturelles Zentrum sowie wichtigster Verkehrsknotenpunkt ist die Hauptstadt Leh, die in 3500 Metern Höhe liegt. Erreichbar ist Leh am komfortabelsten per Flug von Neu Delhi.

Organisierte Wanderungen bietet neben anderen Reiseveranstaltern das Grazer Unternehmen Weltweitwandern in verschiedenen Längen und Schwierigkeitsgraden an – vom 18-tägigen Kultur & Wandern ohne Zeltnächte bis zum 29-tägigen großen Zanskar-Trek. Infos: www.weltweitwandern.at/ladakh

Beste Reisezeit: Juni bis September.

Compliance-Hinweis: Die Reise des Autors wurde von Weltweitwandern finanziert.
(“Die Presse”, Schaufenster-Ausgabe, 10.06.2015)

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Moskau: auf der Suche nach Wodka

Vorbild Literatur. Mit einem Konzept und einem Ziel macht die Wanderung gleich noch mehr Spaß – auf den Spuren von Wenedikt Jerofejews Trinkroman „Die Reise nach Petuschki“ durch Moskau.

„Alkohol ist der zentrale Faktor der russischen Gesellschaft“, lautet die Quintessenz aus Wenedikt Jerofejews Roman-Monolog „Die Reise nach Petuschki“. Das Buch eignet sich recht gut zum Anstellen vor dem Kutafja-Turm, dem einzigen Weg, über den Touristen in den Kreml gelangen können, denn die Zeit kann hier schon ziemlich lang werden. Und bis die Kontrollposten die Handtaschen sämtlicher Wartenden durchsucht haben, gehen sich ja doch noch ein paar Seiten aus.

„Schlecht wird mir auf keinen Fall mehr, es könnte nur sein, dass ich kotzen muss“, schreibt Jerofejew. Nun, das ist russische Literatur. Buch zu, die Gruppe ist beim Kontrollposten angelangt. Schnell durch den Metalldetektor, und vorwärts ins Innenleben des Kremls, jener Festung im Herzen Moskaus, die vor mehr als 800 Jahren zunächst aus Holz errichtet und in der jahrzehntelang Weltpolitik gemacht wurde.

Aber nicht nur Weltpolitik findet und fand hier statt. Auch innerrussische und -sowjetische Angelegenheiten wurden hier verhandelt, mit teils weitreichenden Folgen. Man denke an Michail Gorbatschows „Kampagne gegen Suff und Alkoholismus“, die er 1989 kleinlaut zurücknahm. Die Prohibition hatte lediglich den Effekt, dass rund 100.000 Russen an gepanschtem Alkohol starben.

Aber genug davon, schließlich bietet die Festung viel mehr. Das nämlich, was man von Moskau erwartet: goldene Zwiebeltürmchen auf weißen Kathedralen. Die Uspenski-Kathedrale etwa, wo Zaren gekrönt und Staatsakte verkündet wurden; sie galt lange Zeit als die wichtigste Kirche Russlands. Hier findet sich auch der Thron des russischen Zaren Iwan des Schrecklichen.

Ivans große Glocke

Sein Grab wiederum liegt wenige Meter entfernt in der Erzengel-Kathedrale, wo russische Zaren bis zu Peter dem Großen begraben wurden. Inmitten des Ensembles verschiedener Kathedralen, im Schatten des 81 Meter hohen Glockenturms „Iwan der Große“, vergisst man völlig, wo man sich gerade befindet. So friedlich, fast schon romantisch stellt sich jener Ort dar, den Kinder der Achtziger sich einst als Hort des Bösen ausmalten.

Aber bei genauem Hinsehen finden sich doch noch Hinweise, die man mit dem kalten Krieg, der Sowjetunion, verbindet, etwa die überdimensionalen Kappen der Sicherheitskräfte. Ein eigentlich harmloser Verkehrspolizist steht da an einer Kreuzung im Kreml und weist Touristen, die die ihnen angestammten Wege verlassen, mit einem schrillen Pfeifen auf ihren Fehltritt hin. Demütig springen diese wieder auf den Gehweg, den sie verlassen hatten, um einen besseren Winkel zum Fotografieren zu erlangen.

Gut, muss die Zarenglocke eben aus einem anderen Blickwinkel abgelichtet werden. Jene mehr als sechs Meter hohe Glocke hätte eigentlich vom Glockenturm „Iwan der Große“ läuten sollen, doch die bis heute größte Glocke der Welt blieb am Boden. Nach dem Großbrand von 1737, bei der ein 11,5 Tonnen schweres Stück herausgebrochen war, ließ man sie auf einem steinernen Sockel stehen. Es geht weiter am großen Kremlpalast vorbei zur Rüstkammer, an der sich, wie schon beim Eingang zum Kreml, eine Schlange gebildet hat. Ist die Wartezeit einmal umgebogen – vielleicht gehen sich ja ein paar Seiten Jerofejew aus – zeigt sich der Glanz des alten Russlands in voller Pracht. Denn in dem von 1844 bis 1851 errichteten Gebäude gibt es den Zarenschatz zu sehen, etwa die berühmten Fabergé-Eier und die „Mütze des Monomach“ – jene Krone des Großfürsten Wladimir Wsewolodowitsch Monomach, die später als Krone der Zaren diente.

Nun, man muss nicht alle der mehr als 4000 Objekte gesehen haben, um einen heftigen Anflug von Müdigkeit zu bekommen.

Im Allerheiligsten

Müde werden indes auch jene Menschen, die auf dem Roten Platz in einer langen Schlange angestellt stehen. Sie bewegen sich nur wenige Zentimeter pro Minute vorwärts, warten darauf, dass die Polizisten sie durchsucht und durchgewunken haben, hin zu einem roten Kubus vor der Kremlmauer. Dieses 1930 errichtete Gebäude war einst das Allerheiligste der Sowjetunion, liegt doch in einem Kristallsarg einer der Väter des Kommunismus – Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, führender Kopf der Oktoberrevolution von 1917.

Noch heute pilgern Touristen beinahe ehrfürchtig zu dem dunkelroten Bauwerk. Zu sehen gibt es immerhin nicht einen einfachen Sarg, sondern den einbalsamierten Körper des Revolutionsführers. Ein ganzes Team von Wissenschaftlern war zu Sowjetzeiten damit beschäftigt, die Leiche zu pflegen und zu erhalten. Auch heute noch wird regelmäßig der Zustand des Körpers überwacht, alle drei Jahre bekommt er sogar einen neuen Anzug und eine Krawatte. Morbid? Vielleicht, aber ein Touristenmagnet.

Die schönste Kathedrale

Am Roten Platz entlang geht es dann zur Basilius-Kathedrale. Sie ist oft im Hintergrund zu sehen, wenn Fernsehreporter aus Moskau berichten und wird damit fälschlicherweise dem Kreml zugerechnet. Mit ihren bunten Zwiebeltürmchen und den mit weißem Putz filigran verzierten roten Backsteinen gehört sie zu den sehenswertesten Gebäuden der Stadt.

Es kursiert die Legende, dass Zar Iwan der Schreckliche dem Architekten die Augen ausstechen ließ, damit er nicht anderswo eine vergleichbar schöne Kathedrale errichten kann. Die Stufen und der Garten bieten die Möglichkeit für ein paar ruhigere Minuten. Zeit, um die Kathedrale zu umrunden, hinunter auf die Moskwa zu blicken und vielleicht auch wieder einen Blick in das Jerofejew-Buch zu werfen. „Und ich trank unverzüglich“, ist da einer der zentralen Sätze. Keine schlechte Idee, eigentlich. Zeit für einen Ortswechsel.

Mit dem Bus geht es in Richtung Ismailovo, einen Bezirk etwas außerhalb. Hier findet sich plötzlich eine weiß strahlende Burg, die ein wenig anmutet wie Disneyland light. Der „Kreml in Ismailovo“ ist ein Vergnügungspark mit angeschlossenem Markt. Hier findet sich, möchte man mit Blick auf Jerofejew vermuten, das Paradies des Russen – das Wodka-Museum.

Liebevoll wird dem Besucher erklärt, wie Wodka entdeckt wurde und dass sich der Name von „Voda“ (Wasser) ableite. Dass das Getränk die Geschichte Russlands entscheidend prägte, sieht man auf Werbeplakaten, Wodka-Flaschen verschiedenster Marken und Formen; auf Tafeln wird erklärt, wie Wodka hergestellt wird – nämlich nicht nur aus Kartoffeln, sondern oft auch aus Getreide – und wie sich die Prohibition auf den Trinkkonsum ausgewirkt hat. Kurzum, alles dreht sich um das eine. Dass das Ambiente ein wenig improvisiert wirkt und der Besucher ohne Russisch-Kenntnisse vermutlich nur wenig mitbekommt, schränkt die Freude ein wenig ein. Dass ein Museum für ein einzelnes Getränk nicht größer ist als zwei mittelgroße Räume, überrascht allerdings nicht. Immerhin, es gibt noch einen dritten Raum.

In jenem letzten Zimmer ist der Jerofejew-Leser auf Besuch in Moskau vermutlich am Ziel seiner Reise angelangt – dem Verkostungsraum. Die Reisegruppe versammelt sich an einem Tisch, jeder Besucher bekommt seine Stopka, das traditionelle russische Wodkaglas, das genau 100 Gramm fasst. Wodka ohne Gesellschaft zu trinken ist verpönt, gut also, dass mehrere hier sind, mit denen angestoßen werden kann.

Je länger der Trinkspruch…

Ein simples „Na Sdorowje“ – „Auf die Gesundheit“ ist dafür fast schon ein bisschen zu wenig Ritual. Ein Trinkspruch gehört zum guten Ton – je länger, desto besser. „Wodka ist Gift, Gift ist Tod, Tod ist Schlaf, Schlaf ist Gesundheit. Wollen wir auf die Gesundheit trinken“, lautet da einer. Dann hält man die Luft an, trinkt das Glas in einem Zug aus und widmet sich den unverzichtbaren Beilagen: eingelegte Pilze, Salzgurken, Fleischbällchen, Blinis und Butter. „Es begann ein Schlürfen und Raunen“, erinnert sich der Leser an eine weitere markante Stelle in Jerofejews Werk.

Es folgt ein Glas Russkij Brilliant, der außerhalb Russlands kaum zu bekommen ist. Mit ihm kommt schließlich ein stilles Verständnis auf, warum die Russen so am Wodka hängen. Und abends im Hotelzimmer, wenn vor dem Schlafengehen noch ein paar Seiten Jerofejew durchgeblättert werden, nickt man in stillem Einverständnis mit dem Autor: „Trinken wir auf das Verstehen!“

(“Die Presse”, Print-Ausgabe, 17.02.2007)

Tango in Finnland: Betörende Wehmut

Schlaflose Nächte beim Tangofestival in Seinäjoki.

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„Eteen, eteen, sivulle yhden, taakse, taakse“ – vor, vor, Seite, zusammen, zurück, zurück. Einige hundert Menschen in kurzen Hosen und T-Shirts beobachten Åke Blomquist, wie er im Turnsaal der Schule von Seinäjoki den richtigen Tangoschritt vorzeigt. Der ältere Herr, im Styling eine Mischung aus Lex Barker und Opa Laffite aus der „Lieben Familie“ – wobei der Beitrag von Lex Barker vor allem in der schlaksigen Gestalt und der Tolle besteht – ist Finnlands bekanntester Tangolehrer.

Und so ist auch die für Außenstehende skurril anmutende Szenerie schnell erklärt: In der kleinen westfinnischen Stadt Seinäjoki findet seit 1985 alljährlich das Tangofestival statt. Für fünf Tage verwandelt sich die ganze Stadt – Straßen, Plätze, Lokale, in Hallen oder unter freiem Himmel – in ein riesiges Tanzparkett. Wohin sich der Blick wendet, überall wiegen sich Paare im Tangoschritt.

Dabei ist das Festival nicht nur für die Einwohner Finnlands – neben Argentinien die zweite große Tangonation – interessant. Aus der ganzen Welt strömen Tangoliebhaber und Hobbytänzer herbei. Und auch internationale Medien berichten vom alljährlichen Treiben in Seinäjoki vor Ort.

Tomoo Sukogawa, ein Tanzlehrer aus Tokio, ist auf Einladung von Åke Blomquist gekommen, den er bei der Dance Teachers Association kennen gelernt hat. Gekonnt gleitet er mit seiner Partnerin, einer seiner Studentinnen, über das Turnsaalparkett. „Das Gefühl ist wichtiger als die Musik“, verrät er.

Im Gegensatz zum argentinischen Tango lasse sich der finnische sehr leicht erlernen. Denn er sei weniger technisch, in seiner betörenden Wehmut vielmehr gefühlsorientiert. Kurz: „Es gibt keinen Fehler beim Tanzen, jeder Tänzer macht es richtig.“

Åke Blomquist scheint das nicht ganz so einfach zu sehen. Unnachgiebig geht er durch die Reihen und mustert die Tänzer. Unnachgiebig zählt er im Takt mit: „Eteen, sivulle yhden, taakse.“ Die Wurzeln des finnischen Tangos liegen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Während Familien und Liebende durch den Krieg getrennt waren, hielt der Tango das Volk zusammen. Nostalgie, Weltschmerz und unglückliche Liebe sind die Themen, um die sich die Texte der Lieder drehen. Und der Tango ist für viele Finnen mehr als nur Musik oder Modetrend, sondern ein Teil finnischer Lebensart.

Während im Turnsaal der Ernstfall nur geprobt wird, herrscht draußen auf der Straße bereits Feststimmung. Männer mit aufgekrempelten Hemdsärmeln halten Damen in Jeans und T-Shirts im Arm, wiegen elegant hin und her und verbinden den ausdruckslosen Blick des Tangos mit einem Hauch finnischer Fröhlichkeit. Bei Sonnenschein ist die gesamte Straße mit Tänzern übersät, bei Regen drehen zumindest die Härteren ihre Runden – einige davon eben mit Schirm in der Hand.

Wem das bunte Treiben zu viel wird, der kann sich für einige stille Momente in Richtung Aalto-Zentrum zurückziehen. In der Stadtbücherei, dem Theater, der Stadthalle und der Kirche „Lakeuden Risti“, alle vom finnischen Nationalarchitekten Alvar Aalto erbaut, scheint auch während des Festivals eine Art Tangoverbot zu herrschen. Und auch in der alten Mallaskoski-Brauerei widmen sich die Finnen eher in Ruhe dem frisch gezapften Bier als dem überall präsenten Tanzfestival.

Gegen Abend verlagern sich die Massen langsam in Richtung Seinäjoki Arena, eine Mehrzweckhalle mit rund 7000 Sitzplätzen. Hier findet der Tango Singing Contest statt. Denn finnischer Tango ist nicht nur ein Tanz, auch die Musik dazu wird zelebriert. Und die alljährlich stattfindenden Wahlen zu Tangokönigin und Tangokönig waren schon das Sprungbrett für so manche Karriere. Zumindest national gesehen, oder haben Sie schon einmal etwas von Jari Sillanpää gehört? In Finnland ist der ehemalige Tangokönig von 1995 ein absoluter Superstar.

Das Publikum, eher Menschen jenseits der Dreißig, findet sich brav auf den Sitzen ein, in einer Stimmung irgendwo zwischen der Ehrfurcht bei einem Udo Jürgens-Konzert und der Gelassenheit während des Musikantenstadls. Und dann beginnt die Halle zu kochen.

Die Scherze zwischen den Musikbeiträgen verstehen Nichtfinnen wegen der sprachlichen Hürde zwar nicht, doch die Stimmung greift auch auf alle anderen über. Und am Ende des Tages, wenn die sommerliche Sonne gerade eine kurze Pause einlegt, lässt sich so mancher Besucher der zweiten großen Tangohauptstadt dabei ertappen, wie er im passenden Schritt zurück ins Hotel tänzelt. „Eteen, sivulle yhden, taakse.“

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 08.04.2006)