Die unterschiedliche Länge der allerletzten Sekunde

Nach der letzten Sekunde, in der etwas verhindert wurde, könnte doch noch eine gekommen sein.

Zeitangaben sind relativ. Albert Einstein könnte das sicher plausibel erklären, aber im Zweifel reicht auch das Alltagswissen, wenn die Anzeige der Wiener Linien seit sieben Minuten eine Minute bis zur nächsten Straßenbahn anzeigt. Was hält sich diese Realität auch nicht an die Fahrpläne und lässt Falschparker, klemmende Einstiegstüren und bösartige Ampelschaltungen die Zeit einfach anhalten. Aber vielleicht ist das ja auch ganz gut so, immerhin ist Zeit endlich. Irgendwann wird die letzte Sekunde geschlagen haben – und nach der ist es dann vorbei. Sie kennen das, es gibt ja auch verschiedene religiöse oder esoterische Gruppierungen, die den Untergang der Welt ziemlich genau vorhergesagt haben. Um nach Verstreichen der Frist und dem augenscheinlichen Nichteintreten der Vorhersage Neuberechnungen anzustellen oder irgendwann entnervt festzustellen, dass das prophezeite Ende vielleicht doch nur metaphorisch gemeint gewesen sein könnte.

Sprachlich wird diese letzte Sekunde aber auch gern im Nachhinein eingesetzt, vor allem in dramatischen Erzählungen. Da wird etwa verkündet, dass ein Terroranschlag in letzter Sekunde verhindert wurde. Nun, das mag in James-Bond-Filmen zur Dramatisierung des Spannungshöhepunkts ganz gut passen. Countdown bleibt bei 1 stehen und so. In der Realität wird die Phrase aber auch gern ausgepackt, wenn vielleicht noch Minuten, Stunden, ja vielleicht sogar Tage oder Monate vergehen müssten, bis das passiert wäre, was in allerletzter Sekunde vermeintlich verhindert wurde. Abgesehen davon, woher weiß man, dass nach der letzten Sekunde, in der ein Unglück gerade noch abgewendet werden konnte, nicht vielleicht noch eine weitere gekommen wäre? Oder zwei? Aber zugegeben, eine dramatische Rettung in vorvorletzter Sekunde klingt auch blöd. Ist mir gerade noch im letzten Moment eingefallen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 30.01.2017)

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Seid nett zu den Hustenden, auch wenn sie nerven

Es gibt kaum ein unerträglicheres Geräusch als Reizhusten. Er stigmatisiert aber auch den Huster.

Husten kann etwas Befreiendes haben. Ein besseres Räuspern, nach dem der Hals wieder frei ist. Und das nicht weiter auffällt. Doch ist Husten bekanntlich nicht Husten. Und gerade in dieser unsinnigen kalten Jahreszeit (Make Summer great again! Auch jetzt schon!) lässt so mancher seine Bronchien regelrechte Konzerte spielen. Menschen, die diesen unproduktiven Husten – gemeint ist, dass dabei keine Sekrete aus den Atemwegen ausgestoßen werden – mit sich herumschleppen, ernten in der Straßenbahn ähnliche Blicke wie Eltern unablässig schreiender Babys, also irgendwo zwischen genervt und vorwurfsvoll. Ja, so bitte tu doch endlich etwas dagegen. Zugegeben, das Geräusch nervt, ähnlich wie das Tropfen eines Wasserhahns, der sich nicht abstellen lässt, wie der Presslufthammer am Morgen von der Baustelle vor dem Fenster und immerhin fast so sehr wie diese schrillen Werbespots für Rubbellose nach der „Zeit im Bild“.

Der Hustende weiß das. Peinlich berührt versucht er, den Reiz wegzuschlucken, dreht sich in eine Richtung, wo möglichst niemand steht – schwierig in einer voll besetzten Straßenbahn – und kann dann doch nicht anders. Ein Huster nach dem anderen verpufft in der vorgehaltenen Hand. Der Bauch schmerzt schon vom dauernden Verkrampfen. Dann der entschuldigende Blick in die Runde – tut mir leid, Leute, mir wäre auch lieber, ihr müsstet euch das nicht anhören. Und nein, es sagt niemand etwas. Es wird geschwiegen, betreten weggesehen, vielleicht mit den Augen gerollt. Aber überall schwingt ein Vorwurf mit. Und es wäre allen wohler, wäre man jetzt nicht hier. Am besten wäre ja einfach daheim bleiben – nur, dass sich so ein trockener Husten ziemlich ziehen kann. Ein paar Wochen, angeblich. Ist schon recht! Aber wartet nur, wenn ich wieder gesund bin, dann huste ich euch allen was!

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.01.2017)

Sehr geehrte Erkältung, wir müssen Sie leider kündigen

Wenn einem die Stimme wegbleibt, sollte man überlegen, sich vom grippalen Infekt zu trennen.

Hartnäckigkeit ist etwas, das in Lebensläufen für die Bewerbung gern als positive Eigenschaft angeführt wird. Insofern musste die aktuelle Erkältung beim Vorstellungsgespräch wohl geglänzt haben. Hat immerhin Kompetenzen in mehreren Bereichen des Atmungsapparats, sorgt durch fieberhafte Arbeit für ein warmes Betriebsklima und lässt sich durch Einflüsse von außen nicht aus der Ruhe bringen. Als Arbeitgeber bleibt einem da gelegentlich sogar die Stimme weg. Und unter Tränen, Schnäuzen und Schnieben grübelt man, ob es für den verdienten Mitarbeiter nicht an der Zeit wäre, die Karriere andernorts fortzusetzen. Man will ihm ja keine Aufstiegsmöglichkeiten verbauen. Es gibt doch bestimmt noch hochrangigere Eigentümer, deren innere Bereiche man durchwandern könnte. Und um ganz ehrlich zu sein, auf die Dauer nervt die ständige Schleimerei des aufdringlichen Karrieristen schon. Vermutlich kennen Sie das Phänomen auch, diese Typen verbreiten sich ja fast schon viral. Wenn dann sogar in den Lungen Flügelkämpfe ausbrechen, bleibt einem das Lachen im Hals stecken. Das Dumme ist, dass man solche Mitarbeiter kaum wegbekommt – sie reagieren weder auf freundliche Aufforderungen noch auf die harte Tour, etwa mit Chemie. Im Gegenteil, sie husten einem was.

Abwarten und Tee trinken, sagen sie bei den Human Resources, so etwas ist halt kein Honiglecken. Ja eh, manchmal muss man eben die Extrameile gehen, aber irgendwann wird es wohl schmerzhafte Einschnitte geben müssen. Den Mandeln die Zähne ziehen, vielleicht. Und dann ein freundliches Schreiben, um die Zusammenarbeit zu beenden. Sehr geehrte Erkältung, nach sorgfältiger Prüfung müssen wir Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihre Anwesenheit nicht weiter benötigen. Wir bedauern, Ihnen keinen günstigeren Bescheid geben zu können. Und jetzt raus hier, aber flott.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.01.2017)

Der empathische Tee für jede Lebenslage

Marktlücke: Tee für Teeverächter, der ihnen Mitleid zuspricht, dass sie Tee trinken müssen.

Ein Mensch, der Tee nur trinkt, wenn er krank ist, hat gerade im Winter immer wieder Aha-Erlebnisse. Dann nämlich, wenn er aus dem hintersten Fach der Kredenz die Kartons mit den Teebeuteln hervorholt – nein, keine handverlesenen Teeblätter aus dem Hochland von Sri Lanka, die sorgsam zerkleinert und getrocknet im Teesieb 36 Sekunden lang mit 83 Grad heißem Wasser aufgegossen werden. Shame on me, auf ein Outing als Waschlappen des Aufgussgetränks braucht man sich nichts einzubilden, aber es zu verheimlichen wäre auch unredlich. Wie auch immer, nachdem die Beutel mit Preisangabe in Schilling aussortiert worden sind, geht es an die Packungsbeilage der verbliebenen Sorten. Offenbar hat man in der freiwilligen Teeabstinenz verpasst, dass es nicht mehr nur schwarzen, grünen und Kräutertee gibt. Sondern dass die Tees mittlerweile nach Lebenslagen sortiert werden. Die weltgewandten Leser lächeln mild, wissen wir doch längst, das gibt es sogar schon länger als Running Sushi.

„Magenfreund“, „Fühl dich wohl“, „Halsfreund“. Versteht man. Aber dann, und jetzt stellen Sie sich bitte einen grippigen Nestler im Teekarton vor, kommt ein „Schutzengeltee“ daher. Ein weiterer namens „Hildegardharmonie“. Und dann ist da einer namens „Loslassen“. Passiert in diesem Moment auch gleich, und das Häferl war einmal. Erst das zerschlagene Porzellan zusammenkehren, dann auf die Suche machen, ob es eine empathische Kräutermischung „Wird schon wieder werden“ gibt. Offensichtlich nicht, aber auch forschere „Jetzt krieg dich wieder ein“-Doppelkammerbeutel tauchen keine auf. Wenn es jemanden gibt, der für die Benennung von Tee zuständig ist, dann hier eine Bitte: Ein Aufguss mit dem Namen „Ei, ei, ei, du Armer“ würde sich sicher gut verkaufen. Also zumindest einmal. Dann kommt er wieder in der Kredenz ganz nach hinten.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.01.2017)

Für diesen Neujahrsvorsatz gibt es einen Fünfer. Setzen!

SPANNEND: Phrasen, die wir uns im neuen Jahr abgewöhnen könnten, gäbe es ja genug.

Als Titel hätte hier auch „Leute, die ,Setzen, fünf‘ sagen“ stehen können. Aber es ist ein neues Jahr, da sind die Vorsätze noch da, diesmal alles anders zu machen. Also nicht mehr zu den Leuten zu gehören, zum Beispiel, die „Leute, die . . .“ sagen. Oder zu Leuten, die „Das muss auch einmal gesagt werden“ an das Ende einer Aussage stellen. Schließlich weiß man nicht, ob die Welt nicht besser geworden (oder zumindest gleich gut geblieben) wäre, hätte man das, was man vermeinte, sagen zu müssen, nicht gesagt. Dürfen durfte man es auf jeden Fall, auch wenn die Leute, die „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ sagen, irgendwo ein Verbot herandräuen sehen dürften. Ist so. Apropos, auch das „Ist so“ am Ende eines Satzes macht eine dumme oder falsche Aussage nicht gescheiter oder richtig. Und das ist die Wahrheit. Wenn auch diese Beschwörungsformel ihre Schwächen hat. Sie wissen schon, Leute die sagen, dass das, was sie sagen, die Wahrheit ist – ups, schon wieder die Leute ins Spiel gebracht, sorry. Zur Info: Fakt ist, dass Dinge, vor denen „Fakt ist“ steht, genauso wenig richtig sein müssen. (Und sie werden es auch nicht, wenn man es durch „Unfassbar!!!“, „Unglaublich!!!“ oder „Zur Info“ ersetzt.)

Aber gut, zurück zu den Vorsätzen. Einer für 2017 könnte ja sein, autoritäres Gehabe in der Kommunikation ein bisschen einzuschränken. Leute, die einen Artikel oder ein Buch per „Lesebefehl“ ankündigen, sollten angesichts des Tons mit Lesebefehlsverweigerung rechnen. Leute, die eine Kritik an anderen mit „Setzen, fünf“ schließen, sollten damit rechnen, dass sie wirken wie eine zeitgenössische Karikatur eines Lehrer Lämpel. Und Leute, die in Kolumnen immer „Leute, die“ verwenden, sollten sich vielleicht auch einmal etwas anderes überlegen. Das nützt sich nämlich ab. Gut, das war also der Vorsatz für heuer. Ich setze mich. Fünf.

(Print-Ausgabe, 02.01.2017)