Als Franz Kafka eine U-Bahn-Station plante

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens in die U-Bahn-Station Volkstheater gestellt. Genau, das ist jene Station, die Franz Kafka erdacht haben könnte, wäre er nicht Autor gewesen, sondern Architekt. Denn der dreigeschoßige, unterirdische Kreuzungsbahnhof wirkt mit seinem weitverzweigten Gewirr unübersichtlicher Räume wie aus dem „Prozess“ oder „Schloss“ entlehnt. Da sind die unzähligen Ein- und Ausgänge, die quer über die Ränder von erstem und siebentem Bezirk verstreut worden sind – und vor jedem davon steht zumindest ein Unglücklicher, der sich bei der Station Volkstheater verabredet hat und sich nun versetzt wähnt, während dessen Verabredung an einem der anderen Eingänge das gleiche Schicksal erleidet.

Welchen Eingang in das Kellergewölbe man auch wählt, um hinabzugelangen – es ist immer der falsche. „Da die Seitenbahnsteige der U2-Station Volkstheater nur ein Geschoß unter dem Straßenniveau liegen, ist die Entscheidung, in welcher Fahrtrichtung man mit der Linie U2 fahren will, bereits an der Oberfläche zu treffen“, warnen die Wiener Linien bereits in bestem Bürokratendeutsch. Doch damit nicht genug – wer von der Burggasse aus zur U2 Richtung Aspernstraße will, wird erst bergab gejagt, nur um gleich wieder bergauf fahren zu müssen. Besonders bedrohlich wirkt dieses Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse dann, wenn eine der Rolltreppen nicht in Betrieb ist – was häufig vorkommt – und die Fahrgäste über dunkle Treppenhäuser, vorbei an verwaisten Schaukästen, ihren Weg zu den Bahnsteigen finden müssen.

Das vergebliche Streben ist ein Hauptmotiv in Kafkas Arbeiten, das Scheitern an einer unzugänglichen höheren Macht durchzieht sein Œuvre. Hier kann man es täglich erleben. Schade, dass sein Romanfragment „Das Volkstheater“ heute als verschollen gilt.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 26.11.2012)

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Mouhanad Khorchide: „Gott straft nicht als Machtdemonstration“

Im Islam wird Gott oft als patriarchalischer Herrscher verstanden. Ein Bild, mit dem der Theologe und Soziologe Mouhanad Khorchide aufräumen möchte. In seinem aktuellen Buch begründet er theologisch anhand von Koran-Zitaten und Erzählungen über den Propheten Mohammed, warum der Gott der Muslime in erster Linie eines ist: barmherzig.

Christliche Gebete beginnen oft mit der Anrede „Lieber Gott“. Wie sprechen Muslime ihren Gott an? Ist der auch lieb?

Mouhanad Khorchide: Es kommt auch auf die Sprache an, in der man mit Gott spricht. Aber „Lieber“ sagt man nicht. Man sagt eher etwas wie „Oh Gott“.

Gott ist im Islam eher keine väterliche Figur?

Bei vielen Muslimen wird Gott viel zu transzendent gesehen. Gott beschreibt sich selbst im Koran, und zwar dass er den Menschen näher ist als ihre Halsschlagader. Gott ist interessiert an einer Partnerschaft mit dem Menschen. Aber wir projizieren zu sehr ein patriarchalisches Bild in Gott, machen ihn zu einem Stammesvater, der Befehle schickt, die man befolgen muss – egal ob man sie versteht oder nicht.

Will Gott überhaupt verherrlicht werden?

Der Koran sagt in Sure 5, Vers 54, dass Gott Menschen sucht, die er liebt und die seine Liebe erwidern. Gott sucht also Mitliebende, nicht Menschen, die ihn verherrlichen. Er ist in sich vollkommen und will nicht verherrlicht werden.

Woran liegt es dann, dass im Islam das Bild eines herrschenden, zum Teil rachsüchtigen Gottes vorherrscht?

Politik spielt eine große Rolle. Politiker haben ein Interesse daran, dass sich eine Gehorsamkeitsmentalität im Volk etabliert, damit sie diesen Gott instrumentalisieren können. In Saudiarabien gilt immer noch, wer das Regime kritisiert, kritisiert Gott.

Dieses Gottesbild ist ja nicht nur in Diktaturen verbreitet. Das gibt es ja bei Muslimen in der Türkei oder in Österreich genauso.

In der Türkei oder in islamischen Ländern, die nicht unbedingt Diktaturen sind, gibt es immer noch oft eine Verherrlichungsmentalität, vor allem in den älteren Generationen. In Europa merkt man schon einen Wandel, vor allem bei jungen Muslimen, weil sie in einem demokratischen Land aufgewachsen sind. Sie lernen, kritisch zu reflektieren, zu hinterfragen. Junge Menschen wollen nicht etwas tun, nur weil es im Koran steht. Sie wollen verstehen, was will Gott eigentlich von mir.

Woher kommt dann der Zustrom zu Auslegungen wie dem Salafismus, der auf eine buchstabengetreue Auslegung setzt?

Wer in der Religion primär Identität und Halt sucht, will oft feste, klare Strukturen. Wenn man sich aber den Koran anschaut, geht es nicht um Schwarz-Weiß-Malerei, sondern um die innere Vervollkommnung des Menschen. Es ist ein viel schwererer Prozess, sich selbst zu reflektieren, als nur eine Liste zu befolgen. Salafisten geht es nur um die Fassade, etwa wie lang der Bart ist.

An einigen Stellen im Koran straft Gott sehr wohl – da ist die Rede vom Höllenfeuer.

Im Koran sagt Gott in Sure 7:156: „Meine Strafe trifft, wen ich möchte, aber meine Barmherzigkeit umfasst alles.“ Gott straft nicht, um zu strafen als Machtdemonstration. Wenn ich meinem Sohn sage, er darf nicht mit dem Computer spielen, weil er seine Aufgaben nicht gemacht hat, räche ich mich nicht. Aus meiner Liebe zu ihm möchte ich, dass er lernt, deswegen sanktioniere ich ihn. So muss man die Stellen im Koran verstehen. Es gibt im Koran übrigens kein Attribut von Gott als Strafendem, sondern es ist immer die Rede von der „Strafe Gottes“. Aber sehr wohl wird er beschrieben als der Barmherzige. Und die Bilder von Hölle und Feuer sollte man metaphorisch verstehen. Die Hölle ist die Konfrontation des Menschen mit seinen eigenen Verfehlungen. Das ist kein Racheakt Gottes.

In muslimisch dominierten Ländern gibt es ja sehr körperbezogene Strafen – sind die theologisch begründbar?

Steinigung kommt nicht vor im Koran, aber Handabhacken zum Beispiel schon. Diese Strafen waren schon vor der Entstehung des Koran vorhanden. Der Koran sagt, alle die betrogen haben oder gestohlen haben, müssen gleich sanktioniert werden. Es geht also um Gerechtigkeit. Früher wurden nur die Schwachen bestraft, die Mächtigen nicht. Die Botschaft ist daher, jedes Verbrechen muss sanktioniert werden. Heute geht es nicht darum, partikulare juristische Maßnahmen zu übernehmen – also nur weil im Koran vom Händeabhacken zu lesen ist, müssen wir es heute auch tun. Unsere Aufgabe ist zu hinterfragen: Was würde Gott sagen, wenn er heute den Koran verkünden würde? Es gibt eine Sure, in der die Rede davon ist, Pferde und Esel als Transportmittel zu nehmen. Kein Mensch würde das heute so wortwörtlich übertragen und meinen, dass Autofahren unreligiös sei.

Wenn Gott barmherzig ist und die Sünden alle getilgt werden, klingt das nach einem Freibrief für die Sünde.

Barmherzigkeit ist nicht, dass Gott alles vergibt, sondern bedeutet an erster Stelle Gerechtigkeit. Ja, Gott sanktioniert Menschen, die Verfehlungen begangen haben. Aber er will auch, dass der Mensch sich vervollkommnet. Darum gibt es das Sanktionieren, im christlichen Kontext spricht man von Fegefeuer. Es geht um eine Läuterung im Jenseits. Diese Konfrontation mit seinen Verfehlungen sollte beim Menschen zur Einsicht führen, weil Gott sein Projekt Mensch vollenden will.

Aber heißt es nicht im Islam, dass das Paradies nur für Muslime gedacht ist?

Gott schaut nicht auf unsere Geburtsurkunden. Die traditionelle Theologie sagt, egal was ein Muslim verbrochen hat, im schlimmsten Fall geht er einige Zeit in die Hölle und dann ins Paradies. Das widerspricht der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Gott ist nicht an Überschriften interessiert. Die guten Menschen sind die, die zu Gott in seine Gemeinschaft kommen. Auf die Charaktereigenschaften des Menschen und sein Handeln kommt es an. Die Religion macht dem Menschen ein Angebot, sich selbst zu vervollkommnen – es gibt sie jedenfalls nicht, um Gott einen Gefallen zu tun. Dieser Weg der Vervollkommnung ist offen für alle, für Muslime und Nichtmuslime.

Und wer nie betet oder sich nicht an die Regeln einer Religion hält?

Mit all seinen Verfehlungen wird er im Jenseits konfrontiert. Dort hat er noch einmal die Möglichkeit, durch die Konfrontation zur Einsicht zu kommen.

Und wer in einer Gesellschaft mit anderen Regeln aufwächst, wer nichts von all den Dingen weiß, die als Verfehlung gelten?

Das ist eine lange Debatte in der islamischen Tradition. Was ist mit den Menschen, die nichts von Offenbarungen mitbekommen haben? Die Mu’taziliten im achten Jahrhundert haben dazu gesagt: Die Vernunft allein sagt uns, was gut und was schlecht ist. Wir brauchen nicht den Koran, um zu wissen, dass man nicht lügen und betrügen soll. Die Menschen werden daher zur Rechenschaft gezogen, auch wenn sie von einer Religion nichts wissen.

Ihre Interpretation des Koran ist neu und ungewöhnlich. Wie realistisch ist es, dass das unter Muslimen zum Mainstream wird?

Das Neue bei meinem Buch „Islam ist Barmherzigkeit“ ist, dass ich anders argumentiere. Ich argumentiere nicht politisch, sondern theologisch. Auf den 220 Seiten zitiere ich über 400 koranische Verse und etliche Aussagen des Propheten, um zu zeigen, dass diese Positionen koranische Positionen sind – genuin islamische Positionen, also nicht von außen aufgesetzt. Deshalb stoße ich bei meinen Studierenden und den meisten Muslimen auf große Akzeptanz. Damit daraus ein Mainstream entsteht, brauchen wir Institutionen. In Deutschland gibt es die mit den vier Islam-Studiengängen mittlerweile, es gibt viele Studierende, die später Religionslehrer werden. Aber es braucht Zeit, bis ein Mainstream entsteht. Wichtig ist, dass bei meinem Ansatz alles im Koran begründet ist und nicht im Widerspruch zum Koran steht. Alle Muslime unterstreichen ja die Barmherzigkeit Gottes, aber keiner hat bis jetzt versucht, daraus systematisch eine Theologie aufzubauen.

Kann das Konzept der Barmherzigkeit auch Muslime in anderen Ländern erreichen?

Das Buch wurde schon ins Englische übersetzt, ich habe auch ein Angebot, es auf Türkisch zu übersetzen. Und ein Interview mit mir wurde in englischer Sprache auf eine Website gestellt – ich habe daraufhin viel Post bekommen aus den USA, Indonesien, Malaysia. Die Gedanken kommen jedenfalls bei vielen Muslimen in anderen Ländern an. Viele Muslime sagen, dass ihre Beziehung zu Gott gestört ist, weil ihnen Religion immer nur mit Angst beigebracht wurde. Aber wenn sie mein Buch lesen, sagen sie, jetzt hat man doch Lust auf diesen Gott. Es ist die Basis für eine gesunde Beziehung zu ihm, die auf Vertrauen, Liebe und Barmherzigkeit basiert.


Herr Khorchide, darf man Sie auch fragen . . .

. . . ob man auch ins Paradies kommt, wenn man Schweinefleisch gegessen hat?
Es ist kein rationales Verbot, das man erklären kann – denn es gibt noch ungesünderes Essen. Es ist nur eine Erinnerung an Adam, der nicht vom Baum essen durfte. Gott hat gar nichts davon, ob man nun Schweinefleisch isst oder nicht. Wenn es ein Muslim macht, ist er jedenfalls nicht verdammt – was nicht heißt, dass es erlaubt ist. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an.

. . . ob Sie manche religiösen Rituale lächerlich finden?
Manche Dinge, die von Menschen konstruiert sind – dass man etwa glaubt, dass einem geholfen wird, nur weil man einen Satz tausend Mal ausgesprochen hat.

… ob Sie als Muslim auch Weihnachten feiern?
Auf meine Art. Ich freue mich, dass keine Mails und Anrufe kommen, ich habe dann endlich Zeit, liegen gebliebene Arbeit nachzuholen. Für mich ist es ein Feiertag.


Steckbrief

Mouhanad Khorchide | Uni Münster

Mouhanad Khorchide wurde 1971 in Beirut geboren, wuchs in Saudiarabien auf. Mit 18 Jahren kam er nach Wien und studierte Soziologie. Aufsehen erregte er mit seiner Dissertation, laut der rund ein Fünftel der muslimischen Religionslehrer Demokratie und Islam für unvereinbar hält.

Seit 2010 ist Khorchide Professor für Islamische Religionspädagogik, seit 2011 Leiter des Zentrums für Islamische Theologie in Münster, wo er für die Ausbildung von Religionslehrern verantwortlich ist.

Aktuelles Buch

Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Herder 2012; 19,60 €

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 25.11.2012)

In der Parallelstaffel auf dem Gehsteig

Fußgänger sind nicht nur glückliche Autofahrer, denen es gelungen ist, einen Parkplatz zu finden. Nein, es gibt sie auch in der hauptberuflichen Ausführung. Wobei es zu unterscheiden gilt, in welcher Disziplin sie sich darauf spezialisiert haben, den zur Verfügung stehenden Boden möglichst effizient zu nutzen. Besonders häufig begegnet man dem Slalomgeher, der die Distanz zwischen Haus- und Gehsteigkante permanent auslotet. An ihm vorbeizukommen, erfordert ein hohes Geschick – und birgt die Gefahr einer Kollision in sich. Geradliniger mögen es die Verfechter der Parallelstaffel. Das ist jene Spezies, die in gehsteigbreiten Gruppen auftritt und das Gesetz der Kohäsion bedingungslos lebt – sie zu umschiffen erfordert meist ein Ausweichen auf die Fahrbahn.

In einer eigenen Welt lebt der Abruptstopper. Ihn erkennt man meist erst dann, wenn die eigene Nase sich in den Rückenfilz seines Mantels gebohrt hat. Wobei man zwischen dem Auslagenstopper, dessen impulsive Negativbeschleunigung von äußeren Einflüssen determiniert ist, und dem viel häufiger vorkommenden „l’art pour l’art“-Stehenbleiber differenzieren muss. Letzterer scheint von einer unsichtbaren Kommandozentrale aus zum sofortigen unmotivierten Halten gesteuert zu werden. Manche dagegen tragen das Steuerungsgerät deutlich sichtbar vor ihrem Körper – den Blick fest auf das Smartphone gerichtet. Dieser Typus Fußgänger gehört zur Sorte der Spontanwender – mitten im schnellen Schritt wird der Körper um 180Grad gedreht und weitergeschickt. Gäbe es den Ö3-Verkehrsfunk für Fußgänger, käme die Redaktion mit den Geistergehermeldungen nicht mehr nach.

Gibt es eigentlich so etwas wie die Straßenverkehrsordnung auch für Fußgänger? Und sollte man das Nutzen der Straße per pedes vielleicht in eigenen Gehschulen unterrichten? Übrigens hat Wien seit Kurzem eine eigene Fußgängerbeauftragte.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 19.11.2012)

Jetzt muss ich aber schon ein bisschen schimpfen

Dass Ärzte einen ganz eigenen Technolekt pflegen, ist bekannt. So wie auch, dass ihr Jargon gern als Fachchinesisch – konkret vermutlich treffender als Fachlatein – bezeichnet wird. Tatsächlich kann es passieren, dass ein Besuch beim Doktor ähnlich abläuft wie eine katholische Messe vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dass ein „Hoc est enim corpus meum“ da schnell im Volksmund zum „Hocus pocus fidibus“ mutieren konnte, ist leicht vorstellbar. Analog dazu kann man im Ärztezimmer bei intravenös schon einmal extranervös werden. Und man darf auch verwirrt sein, wenn der Arzt von „externem Pigment“ spricht und dringend zur „Balneotherapie“ rät – und damit nicht viel mehr aussagen will, als dass man schmutzig ist und in die Badewanne steigen sollte.

Es gibt allerdings auch den umgekehrten Fall, dass die Mediziner sich eines fast schon elterlich-pädagogischen Tons befleißigen. Das äußerst sich dann etwa in einem vorwurfsvoll vorgebrachten: „Jetzt muss ich aber schon ein bisschen schimpfen!“ In Momenten wie diesen schwankt man als Patient zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht das schlechte Gewissen, warum man tatsächlich so lange gewartet hat, bis man zur Vorsorgeuntersuchung gegangen ist, wieso man nicht mehr Sport treibt – oder dass zweimal Zähneputzen pro Tag ja wirklich nicht zu viel verlangt ist. Auf der anderen Seite steht eine aggressiv-renitente Trotzhaltung, dass man von seinem Arzt nicht gemaßregelt werden will wie von einer Kindergärtnerin.

Üblicherweise senkt man dennoch das leicht errötete Haupt, sichert Besserung zu und entfernt sich dann langsam aus der Ordination. Immerhin, der Arzt hat ja nur angedroht, dass er schimpft. Und zumindest hat er es nicht auf Latein gemacht…

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 12.11.2012)

Santiago de Wien Mitte

Wenn es nur nicht schon so abgelutscht wäre. Dann könnte man rund um die Teileröffnung des Einkaufszentrums am Bahnhof Wien Mitte so wunderbare Vergleiche heranziehen. Doch weder ist es originell, das neue Marktgebäude als Tempel zu bezeichnen, noch die hunderten bis tausenden Menschen, die in Schlangen auf Einlass warteten, mit Pilgern gleichzusetzen. Das Wunder, das zu sehen die Wallfahrer angetrieben hat, wäre in einem solchen Vergleich wohl das Macbook Air um 899 statt um 1108,24 Euro. Aber bei Apple wirken derartige religiöse Vergleiche gleich noch weniger neu. Selbst wenn der Vorgang des geduldigen Schreitens im Mittelpunkt steht, ist die Bezeichnung als Prozession nicht angebracht – vor allem, weil das Seelenheil üblicherweise nicht am Ende in einer Einkaufstasche davongetragen wird.

Bitte auch jegliche Anspielung an den heiligsten Ort der Muslime zu unterlassen – allein schon der Gedanke an die Verwendung des Begriffs Einkaufsmekka sollte die ewige Verdammnis nach sich ziehen. Sagen wir es einfach so, wie es ist: Am Donnerstag stellten sich tausende Menschen, die offensichtlich sehr viel Zeit haben, stundenlang an, um sich ein halb fertiges Einkaufszentrum anzuschauen. Amen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.11.2012)

The Great Volksmusik Swindle

Sturm in den Dolomiten! Der ehemalige Produzent der Kastelruther Spatzen hat der „Bild“-Zeitung geflüstert, dass die wohl erfolgreichste Volksmusikgruppe im deutschsprachigen Raum ihre Instrumente auf sämtlichen CDs gar nicht selbst gespielt habe. Zwar meinten manche, als dies ruchbar wurde, dass die Spatzen das schon lange vom Kastel gepfiffen hätten. Doch in der Spatzenpost war vom Schunkelschwindel bisher noch nie etwas zu lesen gewesen.

Die Volksmusikszene ist jedenfalls in heller Aufruhr. Was, wenn die Auftritte beim Grand Prix der Volksmusik womöglich auch nicht live gespielt werden, sondern aus der Konserve kommen? Was, wenn Stefan Mross in Wirklichkeit ein stümperhafter Trompeter ist, dessen Parts auf seinen Alben von einem belgischen Trompeter eingespielt werden? Was, wenn auf der Künstlertoilette des Musikantenstadls Spuren von Kokain gefunden würden? Und was, wenn Florian Silbereisen im Glühweinrausch auf dem Weihnachtsmarkt randaliert?

Unvorstellbar, all das! Hier ist man ehrlich, man ist ja nicht Milli Vanilli. Dem Vernehmen nach versicherten die Verantwortlichen jedenfalls bereits, dass sie nicht eher kastelruhen werden, bis diese Sauerei restlos aufgespatzt ist.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 07.11.2012)

Das Rhinozeros in der Wohnung über mir

In der Wohnung über mir wohnt ein Rhinozeros. Nein, gesehen habe ich es noch nie. Aber sehr deutlich gehört. Und gespürt. Nur ein Tier dieser Größe kann diese stampfenden Geräusche machen, wenn es von einer in die andere Ecke läuft. Nur ein derart starkes Geschöpf ist dazu fähig – meist mitten in der Nacht –, die gesamte Möblage mit großem Getöse über den Parkettboden rumpeln zu lassen. Und nur ein Lebewesen mit einem solch hohen Gewicht kann es schaffen, dass die Gläser auf der Anrichte zittern, als würde die Richter-Skala austesten, wie weit nach oben sie denn nun wirklich offen ist.

Was das Rhinozeros in der Wohnung über mir von seinen Artgenossen in freier Wildbahn abhebt, ist seine Vorliebe für Tanzmusik. Immer wieder überrascht es mit wummerndem Bass, der durch die Altbauwände nur ein wenig in seiner Intensität behindert wird. Auf der anderen Seite beweist das Tier aber auch echte musikalische Ambitionen – zuletzt dürfte es sogar das Gitarrespielen zu erlernen versucht haben. Sein aktuelles Lieblingslied ist „Somebody that I used to know“ von Gotye, dessen eingehendes Riff es mit großer Leidenschaft zu Tages- und Nachtzeiten übt – hätte gar nicht gedacht, dass ein Rhinozeros derart fingerfertig sein kann. Dazu versucht es übrigens auch noch, den Text in der Stimmlage des Originals zu trällern. Auch hier sehr überraschend, wie sehr das stimmliche Spektrum von Mensch und Rhinozeros einander ähneln.

Wie das Verdauungsverhalten eines Rhinozerosses aussieht, weiß ich leider nicht. Aber offensichtlich dürfte das Exemplar in der Wohnung über mir stubenrein sein. Zumindest hört man es immer wieder die Spülung der Toilette betätigen. Immerhin etwas.

Vielleicht sollte ich ja einfach mal auf einen Sprung hinaufschauen. Mit einem Kuchen und einer Flasche Sekt, um auf gute Nachbarschaft anzustoßen. Wobei, trinken Rhinozerosse eigentlich Alkohol?

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.11.2012)

Internet: Angriff der lachenden Katzen

Kaum ein Phänomen hat das Internet so heftig im Griff wie Katzenbilder – in sozialen Netzwerken kann man ihnen kaum entkommen. Und mit ihnen lässt sich sogar Geld verdienen.

Sie sind überall. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht irgendwo in der Mailbox eine von ihnen auftaucht. Kein Tag, an dem nicht irgendwo in der Timeline auf Facebook ein paar von ihnen herumstolzieren. Und kein Tag, an dem nicht irgendein schnelllebiges popkulturelles Phänomen im Web für sie adaptiert wird. Als die Welt etwa am 14. Oktober gerade erst Felix Baumgartners Sprung aus der Stratosphäre halbwegs mitbekommen hatte, tauchte auch schon die erste Animation auf, in der eine Katze aus der Kapsel sprang. Wird über die Übernahme von Lucasfilms durch den Disney-Konzern gesprochen, werden Bilder von Katzen weitergereicht, die im Stil von Star Wars mit Laserschwertern kämpfen. Und gibt es gerade keinen Anlass, findet sich sicher auch irgendein Gimmick, das sich wie ein Virus in unzähligen Mail-Accounts rund um die Welt ausbreitet. Die Katzen haben längst die Herrschaft über das Internet übernommen.

Schon eine Suchabfrage bei Google zeigt beim Begriff „Cat“ mehr als 2,46 Milliarden Einträge. Zum Vergleich, bei „Dog“ sind es gerade einmal 1,5 Milliarden. Aber Google ist in dieser Hinsicht gar nicht so der entscheidende Gradmesser – viel deutlicher zeigt sich das Phänomen im persönlichen Nutzungsverhalten im Web. Gerade auf Social-Media-Plattformen wie Twitter und Facebook muss man Hunde schon eher gezielt suchen – wenn man das möchte. Katzen hingegen tauchen ungefragt auf. Und das nicht nur in Haustierforen oder auf Hello-Kittie-Fansites, auch sonst auf Seriosität bedachte Journalisten tapezieren ihre Accounts mit Katzenbildern zu. Und wenn sogar die üblicherweise so auf minimale Emotionalität bedachte Redaktion von fm4 auf ihrer Timeline Katzenbilder postet (Kommentar: „die chefin will mehr katzenfotos auf unserer fb-seite… also bitte!“), hat das Phänomen Wellen jenseits eines „Oh-wie-süß-die-Diddlmaus“-Publikums geschlagen.

Katzen im Puppengewand. Dass Bilder von Katzen in ungewöhnlichen Posen, auf dem Fahrrad, im Kinderwagen oder in einer Schüssel auf Menschen belustigend wirken, ist dabei nicht unbedingt neu. Schon in den 1870er-Jahren inszenierte der britische Fotograf Harry Pointer für rund 200 Fotos die Tiere in menschenähnlichen Posen. Die Bilder dieser „Brighton Cats“ reicherte er mit Sprüchen an, die eine menschliche Note ins Spiel brachten – fünf Katzen vor fünf Teetassen bekam etwa den Namen „Five o’clock tea“.

Dass es mit anderen Tieren genauso lustige Ergebnisse geben kann, zeigte Harry Witthier Frees, der abseits von Katzen auch Kaninchen, Welpen und sogar Schweine in Kostüme steckte. Allein, nicht alle Tiere wirken gleich gut. So schrieb er im Vorwort zu seinem 1929 erschienenen Buch „Animal Land on the Air“: „Kätzchen sind die vielseitigsten Schauspieler und besitzen eine große Vielfalt an Attraktivitäten.“

Dass gerade Katzen in mehr oder weniger künstlichen oder lächerlichen Posen für Begeisterung sorgen, kann unter anderem daran liegen, dass sie nicht so leicht (oder auch gar nicht) zu trainieren sind. Einem Hund kann man beibringen, die Pfote zu geben, einen Salto zu schlagen, vielleicht sogar auf dem Fahrrad zu fahren. Bilder wie diese kennt man aus dem Zirkus, als dort noch Tiere zum Programm gehörten, und vielleicht sogar aus dem eigenen Alltag in Parks oder auf Wiesen.

Dass Katzen solche Dinge tun, ist eher unwahrscheinlich. Und umso größer mag die Attraktion sein, wenn eine Katze plötzlich genau solche Dinge macht, die wie antrainiert wirken. Oder die ihr sogar so etwas wie ein menschliches Antlitz geben. Genau hier schlägt die Stunde von YouTube & Co., wenn solche kleinen Wunder zufällig mit der Kamera eingefangen wurden und nun über das Internet weltweit verbreitet werden.

Klar ist, dass ein solches Phänomen auch kommerziell nutzbar gemacht wird. Bekanntestes Beispiel ist icanhascheezburger.com. Im Jänner 2007 als Blog gestartet, auf dem Katzenbilder zu sehen waren, die mit lustigen Sprüchen in schlechtem Englisch angereichert waren, wurde die Website noch im selben Jahr um 2,25 Millionen Dollar verkauft.

Im Jänner 2011 konnte das Unternehmen bei einer Finanzierungsrunde sogar 30 Millionen Dollar einsammeln. Zu diesem Zeitpunkt luden bereits 16,5 Millionen Besucher pro Monat rund 500.000 Bilder und Videos in das Netzwerk hoch. Ein durchaus massentaugliches Phänomen, wie es scheint. Genau diese LolCats – so lautet der offizielle Begriff – tragen heute einen großen Teil zum persönlichen Datenaufkommen unzähliger Internetuser bei.

Das Internet wäre sinnlos. Kein Wunder also, dass sich bei vielen von ihnen zunehmend das Bild verfestigt, dass die Katzen die Macht über das Web übernommen haben. Und wir ihnen wehrlos ausgeliefert sind. Doch selbst umzingelt von Katzen, die scheinbar auf einem unsichtbaren Einrad fahren, von Tieren in Star-Wars-Kostümen und sogar von Katzen mit Hitlerbart – die Anhänger dieses seltsamen Kults würden weiter ihr Credo postulieren: Ein Internet ohne Katzen wäre zwar möglich, aber es wäre sinnlos und leer.

KATZEN IM INTERNET

www.lolcats.com
Katzen mit witzigen Sprüchen.

www.catsthat-looklikehitler.com
Katzen mit Bart und Scheitel.

www.infinitecat.com
Katzen schauen Katzen an.

www.catsinsinks.com
Katzen, die in Waschbecken sitzen.

www.meowbify.com
Mit diesem Tool lässt sich jede Website im Katzenlook darstellen.

 

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 04.11.2012)