Metaphysische Verschwörung

Selbst Menschen, deren Hörorgane perfekt funktionieren, sind nicht davor gefeit. Vor dem Phänomen nämlich, dass die auditive Wahrnehmung für einige Sekunden komplett aussetzt. Und das immer in jener Situation, in der das Gegenüber beim Essen einen Satz vollendet – und unmittelbar danach einen großen Bissen in seinen Mund steckt. Das „Wie bitte?“ erklingt garantiert in dem Moment, in dem die leere Gabel wieder aus dem Mund gezogen wird. Mit dem Resultat, dass peinliche Stille sich mit dem Geräusch hastigen Kauens abwechselt – garniert mit dem fragend-wartenden Blick des temporär Schwerhörigen.

Der arme Kauende gestikuliert wild, sucht nach der Handbewegung, mit der er ausdrücken kann, dass er den Satz wiederholt, sobald der Schluckreflex das hastig angekaute Stück Nahrung in die Speiseröhre entlässt.

Welche Dämonen – um Freunden metaphysischer Verschwörungstheorien eine Steilvorlage zu liefern – sorgen dafür, dass das kurzfristige Aussetzen des Hörvermögens im Koordinatensystem der Alltagshandlungen prinzipiell auf demselben Punkt liegt wie das Verschlingen eines Stücks Nahrung? Vermutlich dieselben, die auch für den plötzlichen Bewegungsdrang statischer Lebenseinheiten verantwortlich sind. Das kennen Sie sicher – vor einem Supermarktregal steht wie angewurzelt ein Mensch mit starrem Blick auf die Waren. Minutenlang regt er sich nicht. Erst in dem Moment, in dem man seinen Einkaufswagen an ihm vorbeimanövrieren möchte, macht er gedankenverloren einen Schritt zurück. Und versperrt so den Durchgang. Die Dämonen, schon wieder! Kommen Sie mir jetzt nicht mit selektiver Wahrnehmung. Nein, nur, weil Sie nicht paranoid sind, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht auch hinter Ihnen her sind!

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 30.11.2009)

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Mir fehlen die schmutzigen Worte

Eine solide Grundlage ist die sicherste Basis für ein tragendes Fundament, finden Sie nicht auch? Gerade in der menschlichen Kommunikation gilt dieser Grundsatz besonders. Soll heißen, dass ein Grundstock an Vokabeln notwendig ist, um sinnvoll miteinander reden zu können. Vor allem in Fremdsprachen merkt man augenscheinlich, wenn einem die richtigen Worte fehlen. Bevor nun mangels Vokabular Begriffe umständlich umschrieben werden müssen, sollte der Besuch eines Sprachkurses erwogen werden. Dabei sollte man nicht davor zurückschrecken, einen Anfängerkurs zu besuchen, schließlich haben auch Wolkenkratzer einmal als Keller angefangen.

So machte sich kürzlich ein Freund auf, sein Englisch aufzubessern. Zu oft war es ihm passiert, dass er bei alltäg lichen Verrichtungen über fremdsprachliche Hürden gestolpert war – und das wollte er nicht noch einmal riskieren. Ein einmonatiger Kurs sollte es sein, irgendwo in Kanada, bei dem er die nötigen Sprachbausteine sammeln und zum soliden Fundament formen wollte.

Am Tag der Rückkehr sollte der Moment kommen, in dem er seine neu erworbenen Fähigkeiten demons trieren konnte. Im Stammlokal hatten sich Gäste aus Singapur angesagt, mit denen er auf Englisch parlieren konnte. Aufgeregt saß er da, während er die Finger abwechselnd zur Bierflasche und zu den Pistazien auf dem Tresen führte, als endlich die Tür aufging. Die beiden Asiatinnen betraten das Lokal, ein gemeinsamer Bekannter an ihrer Seite, der die beiden zielstrebig zu ihm führte. Und so erhob sich der Freund vom Barhocker, streckte die Hand aus, um sich vorzustellen. „Hi! I am . . .“, begann er, als er die zahlreichen Pistazienkrümel auf seinen Fingern entdeckte, „. . . I am . . . dirty!“ Immerhin, wenigstens war es Englisch.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 24.11.2009)

Das Baumfleisch im „Goldenen Buch“

Es gibt erste Sätze, die einfach weh tun, so abgelutscht sind sie. „Weihnachten steht vor der Tür“ als Einleitung einer Geschichte etwa. Abgesehen davon, dass diese Phrase an sich schon schmerzt wie „Last Christmas“, kann man Erzählungen, die so eingeleitet werden, bedenkenlos zur Seite legen. Daher steht der Satz auch nicht am Beginn dieser Kolumne, die sich um rührselige Erinnerungen an Kindertage dreht. Rührselig wie die Erinnerung an  jenen Moment, als das Christkind als Fantasiefigur geoutet wurde. Und auch andere Konstanten elterlicher Pädagogik plötzlich in einem neuen Licht erschienen.

Das „Goldene Buch“ zum Beispiel, das irgendwo im Bücherschrank aufbewahrt wurde – und in dem meine Großmutter nachschlagen konnte, wenn ich etwas Schlimmes getan hatte. Groß war die Ehrfurcht gewesen, denn aus einem unerfindlichen Grund konnte sie mir tatsächlich manche Schandtat nachweisen. Dass das Buch in Wirklichkeit ein Psychotrick war, dessen Androhung schon reichte, um den kleinen Erich geständig zu machen, fand ich erst später heraus. Auch so mancher Trick, um das aufgeweckte Kind ins Bett zu bringen, war ähnlich perfid – „Du musst nicht schlafen. Nur kurz die Augen ausrasten!“ Ja, klar. Erst am nächsten Morgen war klar, dass ich gelegt worden war.

Hätte ich jemals eine vegetarische Phase gehabt, hätten mich meine Eltern mit derartigen Kniffen wohl auch dazu gebracht, Fleisch zu essen. Einfach das Steak am Teller als „Baumfleisch“ bezeichnen, das aus einer alten Buche herausgeschnitten wird. Ich hätte das wohl geschluckt, im doppelten Sinn.

Mittlerweile habe ich dazugelernt, hoffe ich. Und lasse mir nicht mehr jeden Unsinn einreden. Selbst, wenn Weihnachten vor der Tür steht.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 23.11.2009)

Und was lesen Sie so?

So mancher mag sich fragen, woher der österreichische Journalist so seine News bezieht. Nun, das hängt von seinem Format ab. Ob er etwa die ganze Woche über sein Spectrum aktiv erweitern möchte, oder ob er einfach darauf wartet, welche neue Post der Kurier heute vorbeibringt. Ich bin ja eher für erstere Variante und nehme mir immer wieder die Zeit, ein wenig nachzuschauen, was sich in der Welt so tut. Doch leider bildet sich, wenn ich in meinem Penthouse Rundschau halte, so manche Furche auf meiner Stirn, wenn ich lesen muss, was Wiener und Wienerin medial so vorgesetzt wird. Zugegeben, die Economy ist zur Zeit nicht besonders gut, aber was sich der eine oder andere Blattmacher in Österreich leistet, das setzt der Niveaulosigkeit ja wirklich die Krone auf. Dass den Lesern da nicht ab und zu ein Hustler entkommt . . .

Nach diesem Seitenblicke aber xpress zurück zum großen Horizont. Nur, wo bleibt hier der neue Stern am Himmel der Medienlandschaft? Etwas, bei dem Playboy und Woman endlich wieder Bravo schreien können? Nein, nichts zu sehen, was man guten Gewissens ins Schaufenster stellen würde. Dem Großteil fehlt einfach das nötige Fleisch. Den Rappelkopf schüttelnd über das fehlende Profil der Medienlandschaft blicke ich dann traurig in den Spiegel und frage mich, was wohl der neueste Trend sein wird, der mein Bild vom Lesen wieder zurechtrückt. Mit Blick auf das Datum scheint das nämlich fällig. Na gut, dann packe ich mir irgendeine kleine Zeitung ein, gehe ins Café und spanne sie dort in den Falter – äh, Halter. Vielleicht bestelle ich mir ein Geschnetzeltes dazu, ein neues Zürcher. Wobei, der Ober im Merkur ist so ein richtiger Faz-ke, also lasse ich es lieber bleiben. Aber eines ist klar, das sollte nicht zum Standard werden.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 16.11.2009)

Fight the anglicisms

Die amerikanische Sprache ist voller Anglizismen. Da hat der deutsche Kabarettist Bodo Wartke wohl recht. Aber auch dieses Neuigkeitenpapier in Ihrer Hand ist nicht immer ganz frei sind von derartigen Griffen in den sprachlichen Mistkübel, wie kritische Leser immer wieder einwenden. „Das macht Sinn“ wagte ich etwa einmal zu schreiben – um postwendend per Leserbrief zurechtgewiesen zu werden, dass die englische Redewendung „makes sense“ in unserer Sprache eher keinen Sinn hat beziehungsweise keinen Sinn ergibt. Ja, dieser Vorwurf macht schon Sinn.

Besonders böse wird es allerdings, wenn vermeintlich ähnlich klingende Worte im Englischen verwendet werden – die dort eine völlig andere Bedeutung haben. Diese sogenannten „falschen Freunde“ kennt man aus der Schulzeit, wenn man etwa im Englischunterricht euphorisch seine Weihnachtswünsche äußert: „I become a book!“ Dann mal viel Spaß bei der Transformation – und hoffentlich wird man unter dem Weihnachtsbaum wenigstens zu einem halbwegs spannenden Buch.

Solche falschen Freunde gibt es übrigens nicht nur im Englischen. Das Niederländische ist hier besonders dankbar. Ein Schild mit der Aufschrift „te huur“ in einem Fenster bedeutet nicht etwa, dass sich dahinter eine Prostituierte verbirgt, sondern weist darauf hin, dass das Apartment zu vermieten ist. Auch sollte man sich nicht wundern, wenn irgendwo in Amsterdam plötzlich ein Telefon zu „bellen“ beginnt. Wäre es ein Hund, würde es schließlich eher „blaffen“.

Noch ein Tipp für Freunde der falschen englischen Freunde: Kommen Sie bei schlechtem Gewissen lieber nicht auf die Idee, im Beichtstuhl einen Sinn zu bekennen – bleiben Sie lieber bei Sünde. Sonst würde Ihr Bekenntnis ja absolut keinen Sinn machen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 09.11.2009)

Für manche ist es Klopapier . . .

Es ist für uns alle unübersehbar Herbst geworden. Und auch unüberhörbar, unüberspürbar und unüberriechbar – Letzteres natürlich nur für jene, deren Nase nicht gerade auf permanente Tuchfühlung angewiesen ist. Apropos Tuch, darüber habe ich mir kürzlich ein wenig den Kopf zerbrochen. Genauer, über die verschiedenen Nutzertypen des  Taschentuchs – und was wir aus dem Umgang mit dem Schnäuzbehelf über die Persönlichkeit des Schnäuzers erfahren können.

Der Stofftaschentuchbenutzer etwa meint Stil zu haben. Ein Stil, der jedesmal auf die Probe gestellt wird, wenn der Schnäuzwillige beim Fingern nach dem Sacktuch (so nennt er es meist) aus der linken Tasche der Wollweste ein Gefühl verspürt, als würde er einem Ochsen das wiedergekäute Futter aus dem Maul ziehen. Und es dann doch an die Nase führt – und danach wieder auf den Weg  zurück in die mittlerweile modrige Wollweste schickt.

Derartigen Stil verabscheut der Freund des Papiertaschentuchs. Aus der Zehnerpackung in der linken Hosentasche zieht er mit überlegenem Lächeln bügelglatte Tüchlein, die er nach dem zärtlichen Kontakt mit den wunden Nasenflügeln als Stoffknäuel in die rechte Hosentasche wandern lässt, die im Lauf des Tages zunehmend zum Feuchtbiotop mutiert.

Stilvoll geht anders, wie eine Kollegin jüngst bewies – einzeln riss sie die Blätter von einer Rolle, die sie auf ihrem Tisch abgestellt hatte. Liebevoll tupfte sie damit das Nasensekret auf und warf das Blatt in den Papierkorb – ehe sie ein weiteres Mal zur Rolle griff. Ihre Taschen blieben sauber. Und während sie so dasaß, begannen ihre Augen noch heller als ihre Nase zu leuchten, als sie sprach: Für manche ist es Klopapier, für andere das längste Taschentuch der Welt.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 03.11.2009)

Tanz die Solopolonaise

Ein Witz setzt an sich immer ein Publikum voraus. Nur einigen wenigen gelingt es, sich zum Alleinunterhalter zu machen, der sich des Abends schenkelklopfend an sich selbst erfreut. Zugegeben, ein bisschen neidisch könnte man auf solche solitären Entertainer schon sein, die sich selbst genügen und auch ohne andere Spaß mit sich haben. Denn wer sich in der eigenen Gesellschaft nicht wohl fühlt, der hat vermutlich ganz recht. Aber andererseits . . .

Interessant an solchen Menschen ist vor allem die Beobachtung, dass sie sogar Dinge, die von der Idee her eine gewisse Mindestzahl an Akteuren brauchen, ganz allein bewerkstelligen, die quasi das Kunststück zuwege bringen, sich selbst im Halbkreis aufzustellen.

So wie etwa der Kollege, der sich in der Redaktion regelmäßig zum Soloflashmob zusammentrommelt. Klingt komisch, funktioniert aber wirklich! Auf einmal steht er da (Überraschungseffekt erfüllt), erzählt etwas völlig Sinnloses (auch das eine Conditio sine qua non eines Flashmobs) und dann löst er sich schlagartig wieder auf – soll heißen, er setzt sich wieder auf seinen Platz. Gut, der einzige Punkt, der zum echten Flashmob fehlt, ist, dass er sich wohl nicht vorher selbst per Facebook oder SMS organisiert hat. Der Effekt beim Publikum ist aber derselbe – ratlose Gesichter und der Eindruck, gerade etwas völlig Verrücktes miterlebt zu haben.

Und ja, trotz eines etwas seltsamen Gefühls hat man sich am Ende dann doch recht gut unterhalten. Shine on, you crazy Alleinunterhalter, möchte man innerlich rufen. Und trotzdem hofft man, dass der Kollege bei der nächsten Firmenfeier nicht auf die Idee kommt, eine Solopolonaise anzuzetteln.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 02.11.2009)