Schau in dein Taschentuch und erkenne dich selbst

Was macht man als esoterisch veranlagter Mensch, der einen Blick in seine Zukunft werfen möchte, aber keinen Kaffee trinkt? Schließlich gestaltet sich das Kaffeesatzlesen dadurch einigermaßen schwierig. Natürlich lassen sich einfach die Kaffeetassen von Zeitgenossen zum Orakel umfunktionieren, doch auch dieser Methode sind Grenzen gesetzt – schließlich bleibt in Zeiten von Espresso aus der Kapsel außer einer braunen Lacke kaum etwas übrig, was sich zum Lesen der Zukunft eignen würde. Inmitten dieses peinigenden Vakuums der Befriedigung des urmenschlichen Bedürfnisses nach spiritueller Erfüllung bleibt dann nicht viel mehr als die Suche nach alternativen Orakeln. Und was liegt da näher, als den eigenen Körper zum Einsatz zu bringen.

Die Hüter des Orakels lassen sich bei ihren Weissagungen sogar sehr leicht in freier Wildbahn beobachten: Ehrfürchtig stehen sie da, die beiden Hände flach nach oben gelegt. Darin gebettet, wie eine heilige Schrift, liegt ein Taschentuch. Und mit staunend geweiteten Augen betrachten sie die Botschaft aus Nasensekret, die sie zuvor wie einen grün-gelblichen Rorschach-Test aus ihrem Innersten hochgezogen haben. Eine, zwei, manchmal drei Sekunden verharren sie da, die Hohepriester des heiligen Rotzes, und scheinen dabei auch noch die eine oder andere Beschwörungsformel zu murmeln, ehe sie das papierene Trägermedium der Prophezeiung feierlich zusammenfalten und in einer Jackentasche verstauen.

Selbstverständlich sollte man eine derartige Zeremonie nicht durch Worte oder Gesten der Empörung stören. Nicht einmal dann, wenn sie am Nebensitz in der U-Bahn abgehalten wird. Vielmehr sollte man dankbar sein, dass die Hohepriester ihre Zukunft in der Öffentlichkeit nur aus Nasensekret lesen. Und nicht auf die Idee kommen, anderen zukunftstriefenden Lesestoff aus dem stillen Kämmerchen zu holen.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 26.03.2012)

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Gezuckertes Schlagobers statt Darmwind mit fünf A

Im Grunde ist es nicht viel mehr als gezuckertes Schlagobers, doch auf Französisch klingt es gleich nach viel mehr. Die „Crème Chantilly“ war es auch, die zum Abstecher in die gleichnamige (ohne Crème) Gemeinde im Département Oise in der Region Picardie motivierte. Dass sie dort auf keiner Speisekarte stand, war zwar enttäuschend, doch hat die französische Küche auch abseits süßer Desserts einen guten Ruf. Eine offensichtlich besondere Spezialität der Region erregte das größte Interesse – schließlich wurde ihr auf dem Menüplan nicht nur ein Triple-, sondern gleich ein Quintuple-A attestiert: „Andouillette AAAAA“, da konnte ja nichts schiefgehen. Der freundliche Kellner nahm sich viel Zeit, das lückenhafte Französisch der Gruppe durch noch lückenhafteres Englisch und ein wenig Gestikulieren zu kompensieren. Die Kombination aus „Spécialité“ und einem Griff in die Bauchgegend ließ dennoch genügend Spielraum für Interpretationen.

Schließlich lag sie auf dem Tisch, die Andouillette. Kein Stück Fleisch, wie angenommen, sondern eine Wurst. Eine Wurst, aus der beim Anschneiden nicht nur zerschnittener Magen und Gedärme quollen, sondern auch ein Gestank, der sonst eher mit einer anderen Art von Wurst assoziiert wird. Die Tischgesellschaft stocherte ein wenig hilflos in den Pommes frites. Die Wurst jedoch blieb unberührt, weil jede Berührung noch mehr Geruch aus der Hülle zu blasen drohte.

Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, am Smartphone nachzulesen, dass es sich um eine Wurst aus Magen und Darm von Schweinen handelt, die nur wenig gewürzt wird, sodass der authentische Geruch der Organe erhalten bleibt. Die „Association amicale des amateurs d’andouillettes authentiques“ (AAAAA) schwört übrigens darauf. Für manche ist es eine Spezialität, für andere die stinkendste Wurst der Welt. Und das alles nur, weil sie kein Schlagobers hatten…

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 19.03.2012)

(c) Erich Kocina

Nies uz dnuseg, ned negeg nielk nedrew ehcsnüw ella

Die bessere Gehirnwäsche beginnt mit dem täglichen Blick auf den weisen Spruch, der irgendwo gut sichtbar in der Wohnung angebracht ist. „Wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“ auf einer Kerze im Wohnzimmerschrank stärkt dem Leser den Mut, bei Stromausfall auf das Auftauchen einer Glühbirne zu hoffen. „In vino veritas, in cervisia felicitas“ auf einer Emailtafel ist dagegen die altphilologische Ermunterung zu ausuferndem Alkoholkonsum als Mittel gegen Wissenslücken oder Depression. Dazu kommen Sprüche à la „Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum“ auf der Schlafzimmertapete, die zwar ähnlich banal wie Bücher von Paulo Coelho sind, aber wenigstens keine Druckstellen im Gesicht hinterlassen, als wäre man wieder einmal bei der Lektüre des Alchimisten über dem Buch eingeschlafen. Und wer Zitate à la „Ich bin tierlieb, ich bin gut zu vögeln“ an der Wand hängen hat – oder auf einem T-Shirt spazieren führt –, hat sowieso verloren.

In Stammbüchern kann man derartige Binsenweisheiten wenigstens verstecken, indem man gar nicht erst zu blättern beginnt. Doch hängen solche Sprüche einmal im Wohnzimmer – üblicherweise mit metallenen Frakturbuchstaben auf dunklem Holz –, gestaltet sich das Entkommen verhältnismäßig schwierig. Allerdings – es gibt eine Variante, der täglichen Gehirnwäsche zu entgehen. Liest man den Spruch einfach rückwärts, verliert er jegliche Bedeutung – und sorgt beim Vorsagen des auswendig Gelernten auch noch für Erheiterung. „Nies uz dnuseg, ned negeg nielk nedrew ehcsnüw ella“ – ein Klassiker, der durch diese Behandlung seinen demütig-naiven Unterton komplett verliert. Zugegeben, eine tatsächliche geistige Höchstleistung ist diese Methode auch wieder nicht. Aber nur wer auch die kleinen Dinge im Leben schätzt, hat den wahren Weg zum Glück gefunden…

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 12.03.2012)

Wenn die Geldtasche auf die Wirbelsäule drückt

„Sitzen Sie auf Ihrer Geldtasche?“ Erwischt! Woher wusste das der Orthopäde, der zuvor gerade einmal die Röntgenbilder der Lendenwirbelsäule betrachtet hatte? Aber warum auch immer, dem Mediziner zufolge haben Karten, Münzen und Papiere, die in Leder gepackt die rechte Gesäßhälfte auch im täglichen Sitzmodus permanent begleitet und um rund eineinhalb Zentimeter erhöht haben, auch ihren Anteil an einer über die Jahre erworbenen und gelegentlich sehr schmerzhaften Beckenschiefstellung. Dass eine Stärkung der Rückenmuskulatur und weniger Sitzen am Schreibtisch nun unumgänglich sind, leuchtet ein. Dass aber auch die Geldtasche, die seit Jahrzehnten die hintere rechte Tasche der Levi’s 501 (natürlich nicht immer derselben) bewohnt hat, sich nun eine andere Unterkunft suchen muss, ist eine absolute Erschütterung eintrainierter Gewohnheit.

Schmerzhaft ist dabei vor allem die Suche nach Alternativen. Eine Herrenhandtasche fällt jedenfalls aus – derart am Sand ist man schließlich auch wieder nicht. Auch ein Bauchgürtel à la Pauschalstädtetourist wäre ein Abschied vom würdevollen Leben. Bliebe die Variante, statt T-Shirt und Kapuzenpulli Hemd und Sakko zu tragen. Das könnte man auch als Zeichen der neuen Ernsthaftigkeit verkaufen, die man ab einem gewissen Alter eigentlich zur Schau stellen sollte – ein Alter, das man mit dem Auftauchen chronischer Rückenschmerzen jedenfalls erreicht hat. Und dann wäre da auch noch die Möglichkeit, auf eine Abschaffung des Bargelds zu hoffen. Und auf eine gleichzeitige Verdrängung aller Kreditkarten, Ausweise und sonstiger Blödheiten, die üblicherweise in der Geldtasche stecken. Die neuesten Smartphones können ja ohnehin immer mehr, vermutlich werden sie auch diese Aufgaben schon bald übernehmen. Bleibt nur mehr die Frage, welcher Arzt dann irgendwann kritisch fragen wird: „Tragen Sie Ihr Handy in der Hosentasche?“

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 05.03.2012)