„Ich mein’“ ist das neue Ähm

Wenn der Mund schneller ist als das Sprachzentrum im Gehirn, kann das zu kommunikativen Komplikationen führen. Um nun ebendiesen Gap zwischen Sprechen und Denken zu überbrücken, erfand die Schöpfung irgendwann das „Ähm“ und pflanzte es in die menschliche Großhirnrinde, von wo es sich jedes Mal auf die Stimmbänder stürzt, sobald das Gehirn mit den Lippen nicht mehr mitkommt. Zuletzt hat dieses verbale Luftschnappen aber auch zahlreiche andere Formen angenommen. Besonders häufig anzutreffen ist es derzeit in der Inkarnation als „Ich mein’“. Kaum ein Satz wird mehr ausgesprochen, ohne dieses Ähm-Äquivalent voranzustellen. Seltener trifft man auf das „Ich finde“, gelegentlich auch auf das „Also“ – wobei es Letzteres sogar als verschriftlichtes Einleitungsfüllwort in so ziemlich jedes Forum im Internet geschafft hat. Beliebt ist auch das „Na ja“, exotischer und dementsprechend nur selten gebraucht ist dagegen das „Ja, nein“, ehe die elektrischen Nervenimpulse die Staustelle auf dem Weg zum Mund überwunden haben. Auch vermeintliche Imperative wie „Schau“, „Hör zu“ oder „Pass auf“ dienen in Wirklichkeit nur der Überbrückung nervlicher Engstellen. Wirklich entblößt wird das Leitungsproblem aber erst durch das langgezogene „Du, saaaaaaag“. Hier lässt sich regelrecht beobachten, wie die Ganglien langsam genügend Spannung aufbauen, um einen Gedanken zu Worten werden zu lassen.

Auch im angloamerikanischen Sprachraum sind derartige verbale Lückenfüller bekannt. Als wichtigstes hat sich das „you know“ etabliert, das – im Gegensatz zum deutschsprachigen Trend der Voranstellung – eher zwischen einzelnen Satzteilen als verbalisierte Nachdenkpause positioniert wird. Und: Derartige Füllwörter passieren auch beim Schreiben – mit dem Unterschied, dass man sie danach elegant wieder löschen kann. Also ich mein‘, ich finde das ziemlich praktisch.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 15.07.2013)

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Über Erich Kocina
Erich Kocina, Redakteur der Tageszeitung "Die Presse"

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