Fußball ist gar nicht so wichtig

Selbst notorische Verweigerer wie mich hat am Ende dann doch das Fußballfieber gepackt. Spätestens bei Deutschland gegen Italien vor dem Flex wich die jegliche Massenhysterie verneinende Bobo-Attitüde der kollektiven Glückseligkeit. Insofern droht nach dem abrupten Ende – kaum dass es angefangen hatte, Spaß zu machen – der tiefe Fall in ein schwarzes Loch. Sie werden mir fehlen, die schwarz-rot-goldenen Wangen der Numerus-clausus-Flüchtlinge in der Strandbar Herrmann oder die blauen Dressen der Squadra Azzurra vor dem Eissalon Zanoni. Der gemeinsame Glückstaumel und die geteilte Trauer weichen wieder solitären Vergnügungen, bei denen man nicht einfach wildfremden Menschen plötzlich in die Arme fällt.

Obwohl, womöglich hätte ein Abend im Sommerkino im Schloss Neugebäude (11, Neugebäudestraße; 21.30 Uhr) mit Lovesong für Bobby Long ein ähnlich völkerverbindendes Potenzial. Ein bisschen WM-Nostalgie lässt sich auch mit Fußball ist immer noch wichtig von Fettes Brot in den iPod zaubern. Noch ist man ja geneigt, das wirklich zu glauben, ehe uns am 18. Juli mit dem Start der Bundesliga die traurige Realität wieder einholt. Eine ähnlich traurige Realität übrigens wie die Tatsache, beim ersten Semifinale vor dem Flex Marlene aus dem Waldviertel nicht nach ihrer Telefonnummer gefragt zu haben. Aber vielleicht laufen wir einander ja am Abend zufällig im Museumsquartier über den Weg, ganz ohne Leinwand und Gegröle. Dann ist Fußball wirklich gar nicht mehr so wichtig.

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 10.07.2006)

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Über Erich Kocina
Erich Kocina, Redakteur der Tageszeitung "Die Presse"

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