Bitte zurückbleiben, Zug nach St. Pölten fährt ab
16. April 2012 Hinterlasse einen Kommentar
Ja, vielleicht war sie ein bisschen zerstreut, als sie am Westbahnhof ankam. Und so fiel ihr erst Minuten nach der Ankunft, auf der Rolltreppe ein, dass sie die Blumen im Zug vergessen hatte. „Die müssen wir holen“, sprach sie. Und gemeinsam mit der Tochter, zu der sie auf Besuch nach Wien gekommen war, sprintete sie zurück zum Bahnsteig. „Darf ich noch rein? Wir haben etwas vergessen“, fragte die Tochter den Mann in der gelben Warnweste, der vor der Zugtür Wache hielt. Und stürmte an ihm vorbei, los in den Zug, von Waggon zu Waggon – die Mutter lief außen mit, dirigierte die Tochter mit wilden Gesten, sie sei ja viel weiter hinten gesessen. Endlich im letzten Waggon, vier Männer vom Putztrupp mit Mistsack und Besen blickten kurz von der Arbeit auf, als plötzlich eine Frau atemlos hereinstürzte. Wo liegen die Blumen? Auf einmal ein Ruckeln. Der Zug fuhr los. Die schockierten Blicke von Mutter und Tochter trafen einander noch kurz durchs Zugfenster.
Außen zog die Silhouette von Rudolfsheim-Fünfhaus vorbei. Innen nahmen die Männer vom Putztrupp auf einer Viererbank Platz. Einer packte eine Wurstsemmel aus, ein anderer zog eine Zeitung hervor und schlug sie auf: „So, jetzt haben wir ja Zeit, bis wir in St. Pölten sind.“ St. Pölten. Die Mutter vom Land allein am Bahnsteig. Und kein Handy dabei. So setzte sich die Tochter und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Alles nur wegen der blöden Blumen.
Wenige Minuten später hielt der Zug an. Schon St. Pölten? Die vier Männer vom Putztrupp grinsten. Westbahnhof. Es war nur eine Verschubfahrt zu einem anderen Bahnsteig. Verarscht. Durchs Fenster war die Mutter von hinten zu sehen. Sie hatte in ihrer Ratlosigkeit beschlossen, einfach nichts zu tun. Und starrte immer noch verdutzt auf die Schienen, wo bis vor ein paar Minuten noch der Zug mit der Tochter gestanden war. Die Blumen waren übrigens in ihrer Tasche.