Moskau: auf der Suche nach Wodka
17. Februar 2007 Hinterlasse einen Kommentar
Vorbild Literatur. Mit einem Konzept und einem Ziel macht die Wanderung gleich noch mehr Spaß – auf den Spuren von Wenedikt Jerofejews Trinkroman „Die Reise nach Petuschki“ durch Moskau.
„Alkohol ist der zentrale Faktor der russischen Gesellschaft“, lautet die Quintessenz aus Wenedikt Jerofejews Roman-Monolog „Die Reise nach Petuschki“. Das Buch eignet sich recht gut zum Anstellen vor dem Kutafja-Turm, dem einzigen Weg, über den Touristen in den Kreml gelangen können, denn die Zeit kann hier schon ziemlich lang werden. Und bis die Kontrollposten die Handtaschen sämtlicher Wartenden durchsucht haben, gehen sich ja doch noch ein paar Seiten aus.
„Schlecht wird mir auf keinen Fall mehr, es könnte nur sein, dass ich kotzen muss“, schreibt Jerofejew. Nun, das ist russische Literatur. Buch zu, die Gruppe ist beim Kontrollposten angelangt. Schnell durch den Metalldetektor, und vorwärts ins Innenleben des Kremls, jener Festung im Herzen Moskaus, die vor mehr als 800 Jahren zunächst aus Holz errichtet und in der jahrzehntelang Weltpolitik gemacht wurde.
Aber nicht nur Weltpolitik findet und fand hier statt. Auch innerrussische und -sowjetische Angelegenheiten wurden hier verhandelt, mit teils weitreichenden Folgen. Man denke an Michail Gorbatschows „Kampagne gegen Suff und Alkoholismus“, die er 1989 kleinlaut zurücknahm. Die Prohibition hatte lediglich den Effekt, dass rund 100.000 Russen an gepanschtem Alkohol starben.
Aber genug davon, schließlich bietet die Festung viel mehr. Das nämlich, was man von Moskau erwartet: goldene Zwiebeltürmchen auf weißen Kathedralen. Die Uspenski-Kathedrale etwa, wo Zaren gekrönt und Staatsakte verkündet wurden; sie galt lange Zeit als die wichtigste Kirche Russlands. Hier findet sich auch der Thron des russischen Zaren Iwan des Schrecklichen.
Ivans große Glocke
Sein Grab wiederum liegt wenige Meter entfernt in der Erzengel-Kathedrale, wo russische Zaren bis zu Peter dem Großen begraben wurden. Inmitten des Ensembles verschiedener Kathedralen, im Schatten des 81 Meter hohen Glockenturms „Iwan der Große“, vergisst man völlig, wo man sich gerade befindet. So friedlich, fast schon romantisch stellt sich jener Ort dar, den Kinder der Achtziger sich einst als Hort des Bösen ausmalten.
Aber bei genauem Hinsehen finden sich doch noch Hinweise, die man mit dem kalten Krieg, der Sowjetunion, verbindet, etwa die überdimensionalen Kappen der Sicherheitskräfte. Ein eigentlich harmloser Verkehrspolizist steht da an einer Kreuzung im Kreml und weist Touristen, die die ihnen angestammten Wege verlassen, mit einem schrillen Pfeifen auf ihren Fehltritt hin. Demütig springen diese wieder auf den Gehweg, den sie verlassen hatten, um einen besseren Winkel zum Fotografieren zu erlangen.
Gut, muss die Zarenglocke eben aus einem anderen Blickwinkel abgelichtet werden. Jene mehr als sechs Meter hohe Glocke hätte eigentlich vom Glockenturm „Iwan der Große“ läuten sollen, doch die bis heute größte Glocke der Welt blieb am Boden. Nach dem Großbrand von 1737, bei der ein 11,5 Tonnen schweres Stück herausgebrochen war, ließ man sie auf einem steinernen Sockel stehen. Es geht weiter am großen Kremlpalast vorbei zur Rüstkammer, an der sich, wie schon beim Eingang zum Kreml, eine Schlange gebildet hat. Ist die Wartezeit einmal umgebogen – vielleicht gehen sich ja ein paar Seiten Jerofejew aus – zeigt sich der Glanz des alten Russlands in voller Pracht. Denn in dem von 1844 bis 1851 errichteten Gebäude gibt es den Zarenschatz zu sehen, etwa die berühmten Fabergé-Eier und die „Mütze des Monomach“ – jene Krone des Großfürsten Wladimir Wsewolodowitsch Monomach, die später als Krone der Zaren diente.
Nun, man muss nicht alle der mehr als 4000 Objekte gesehen haben, um einen heftigen Anflug von Müdigkeit zu bekommen.
Im Allerheiligsten
Müde werden indes auch jene Menschen, die auf dem Roten Platz in einer langen Schlange angestellt stehen. Sie bewegen sich nur wenige Zentimeter pro Minute vorwärts, warten darauf, dass die Polizisten sie durchsucht und durchgewunken haben, hin zu einem roten Kubus vor der Kremlmauer. Dieses 1930 errichtete Gebäude war einst das Allerheiligste der Sowjetunion, liegt doch in einem Kristallsarg einer der Väter des Kommunismus – Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, führender Kopf der Oktoberrevolution von 1917.
Noch heute pilgern Touristen beinahe ehrfürchtig zu dem dunkelroten Bauwerk. Zu sehen gibt es immerhin nicht einen einfachen Sarg, sondern den einbalsamierten Körper des Revolutionsführers. Ein ganzes Team von Wissenschaftlern war zu Sowjetzeiten damit beschäftigt, die Leiche zu pflegen und zu erhalten. Auch heute noch wird regelmäßig der Zustand des Körpers überwacht, alle drei Jahre bekommt er sogar einen neuen Anzug und eine Krawatte. Morbid? Vielleicht, aber ein Touristenmagnet.
Die schönste Kathedrale
Am Roten Platz entlang geht es dann zur Basilius-Kathedrale. Sie ist oft im Hintergrund zu sehen, wenn Fernsehreporter aus Moskau berichten und wird damit fälschlicherweise dem Kreml zugerechnet. Mit ihren bunten Zwiebeltürmchen und den mit weißem Putz filigran verzierten roten Backsteinen gehört sie zu den sehenswertesten Gebäuden der Stadt.
Es kursiert die Legende, dass Zar Iwan der Schreckliche dem Architekten die Augen ausstechen ließ, damit er nicht anderswo eine vergleichbar schöne Kathedrale errichten kann. Die Stufen und der Garten bieten die Möglichkeit für ein paar ruhigere Minuten. Zeit, um die Kathedrale zu umrunden, hinunter auf die Moskwa zu blicken und vielleicht auch wieder einen Blick in das Jerofejew-Buch zu werfen. „Und ich trank unverzüglich“, ist da einer der zentralen Sätze. Keine schlechte Idee, eigentlich. Zeit für einen Ortswechsel.
Mit dem Bus geht es in Richtung Ismailovo, einen Bezirk etwas außerhalb. Hier findet sich plötzlich eine weiß strahlende Burg, die ein wenig anmutet wie Disneyland light. Der „Kreml in Ismailovo“ ist ein Vergnügungspark mit angeschlossenem Markt. Hier findet sich, möchte man mit Blick auf Jerofejew vermuten, das Paradies des Russen – das Wodka-Museum.
Liebevoll wird dem Besucher erklärt, wie Wodka entdeckt wurde und dass sich der Name von „Voda“ (Wasser) ableite. Dass das Getränk die Geschichte Russlands entscheidend prägte, sieht man auf Werbeplakaten, Wodka-Flaschen verschiedenster Marken und Formen; auf Tafeln wird erklärt, wie Wodka hergestellt wird – nämlich nicht nur aus Kartoffeln, sondern oft auch aus Getreide – und wie sich die Prohibition auf den Trinkkonsum ausgewirkt hat. Kurzum, alles dreht sich um das eine. Dass das Ambiente ein wenig improvisiert wirkt und der Besucher ohne Russisch-Kenntnisse vermutlich nur wenig mitbekommt, schränkt die Freude ein wenig ein. Dass ein Museum für ein einzelnes Getränk nicht größer ist als zwei mittelgroße Räume, überrascht allerdings nicht. Immerhin, es gibt noch einen dritten Raum.
In jenem letzten Zimmer ist der Jerofejew-Leser auf Besuch in Moskau vermutlich am Ziel seiner Reise angelangt – dem Verkostungsraum. Die Reisegruppe versammelt sich an einem Tisch, jeder Besucher bekommt seine Stopka, das traditionelle russische Wodkaglas, das genau 100 Gramm fasst. Wodka ohne Gesellschaft zu trinken ist verpönt, gut also, dass mehrere hier sind, mit denen angestoßen werden kann.
Je länger der Trinkspruch…
Ein simples „Na Sdorowje“ – „Auf die Gesundheit“ ist dafür fast schon ein bisschen zu wenig Ritual. Ein Trinkspruch gehört zum guten Ton – je länger, desto besser. „Wodka ist Gift, Gift ist Tod, Tod ist Schlaf, Schlaf ist Gesundheit. Wollen wir auf die Gesundheit trinken“, lautet da einer. Dann hält man die Luft an, trinkt das Glas in einem Zug aus und widmet sich den unverzichtbaren Beilagen: eingelegte Pilze, Salzgurken, Fleischbällchen, Blinis und Butter. „Es begann ein Schlürfen und Raunen“, erinnert sich der Leser an eine weitere markante Stelle in Jerofejews Werk.
Es folgt ein Glas Russkij Brilliant, der außerhalb Russlands kaum zu bekommen ist. Mit ihm kommt schließlich ein stilles Verständnis auf, warum die Russen so am Wodka hängen. Und abends im Hotelzimmer, wenn vor dem Schlafengehen noch ein paar Seiten Jerofejew durchgeblättert werden, nickt man in stillem Einverständnis mit dem Autor: „Trinken wir auf das Verstehen!“